Überblick
AZ-Kolumne von Jean-Marie Pfaff: Der Clásico elektrisiert die Massen
31. März 2023, 17:51 Uhr
Am 9. August 1986 ereignete sich eine Szene, die heute noch in den Jahresrückblicken zu sehen ist: Der legendäre Pfostenschuss von Frank Mill im Münchner Olympiastadion bei der Partie des FC Bayern gegen Borussia Dortmund. Ich wollte einen Ball außerhalb des Strafraums abfangen, Mill war einen Tick eher dran und spitzelte das Leder an mir vorbei.
Er stand vor dem leeren Tor. Ich hetzte so schnell wie möglich hinterher und versuchte ihn noch irgendwie abzufangen. Aber ich grätschte vorbei und sah nur noch aus den Augenwinkeln, dass Mill den Ball aus zwei Metern an den Pfosten setzte, anstatt ihn einfach reinzuschieben.
Unglaublich! Das war damals der erste Spieltag der Saison 1986/87. Bayern war gerade zum achten Mal Meister geworden, Borussia Dortmund hatte die Vorsaison auf einem enttäuschenden 16. Platz abgeschlossen und konnte erst in der Relegation gegen Fortuna Köln den Klassenerhalt perfekt machen.
Niemand hätte damals daran gedacht, dass die Spiele zwischen dem FC Bayern und dem BVB einmal der deutsche "Clásico" genannt werden würde. Jetzt - fast 37 Jahre später - stehen wir wieder vor einem Duell Bayern - Dortmund. Eine Partie, die inzwischen die Massen elektrisiert, die weltweit live übertragen wird und in der es am Samstag um nicht weniger als den Meistertitel geht.
Borussia Dortmund kommt mit breiter Brust nach München. Der BVB hat in diesem Jahr noch kein Bundesligaspiel verloren, liegt einen Punkt vor den Bayern auf Platz eins und strotzt geradezu vor Selbstvertrauen. Ich traue ihnen durchaus zu, diese Serie auch in München auszubauen und in der Allianz Arena zu gewinnen. Mit dann vier Punkten Vorsprung in der Tabelle wäre das ein absoluter Big Point im Meisterrennen.
Der FC Bayern steht enorm unter Zugzwang. Er muss dieses Spiel unbedingt gewinnen, um den BVB wieder an der Tabellenspitze ablösen zu können und im Meisterrennen nicht einen herben, möglicherweise vorentscheidenden Rückschlag zu erleiden. Die Münchner gehen mit dem neuen Trainer Thomas Tuchel in die Partie. Der neue Coach hatte aufgrund der Länderspielpause nicht viel Zeit, um seiner Mannschaft seine Ideen vermitteln zu können.
Ich bin sicher, dass die Bayern heiß sein werden und eine starke Leistung bringen. Unabhängig vom Trainerwechsel will sich die Mannschaft vor ihren Fans für die Niederlage und die schwache Leistung in Leverkusen rehabilitieren. Und der FC Bayern ist oftmals immer dann am besten, wenn der Druck richtig hoch wird. Der BVB kann sich auf jeden Fall schon mal warm anziehen, die Münchner werden richtig Gas geben, da bin ich mir sicher.
Auf einen Spieler wird es beim BVB in diesem Spiel sicher am meisten ankommen: Torhüter Gregor Kobel. Ich beobachte ihn schon länger und finde, er hat sich in Dortmund zu einem der besten Torhüter in der Liga entwickelt. Im Winter wurde er bereits als Ersatzmann für Manuel Neuer gehandelt, als der sich die schwere Verletzung zuzog.
Ich rate Kobel aber heute wie damals, noch eine Weile beim BVB zu bleiben und seine Entwicklung fortzusetzen. Dort ist er gesetzt und kann auf national und international hohem Niveau spielen. Mittelfristig sehe ich ihn aber bei einem ganz großen Verein in einer Top-Liga.
Ich kann mir durchaus auch vorstellen, dass Kobel einmal Neuer beerbt, wenn der seine Karriere in München beendet. Am Samstag kann der Schweizer mit einer großen Leistung in der Allianz Arena schon einmal eine Bewerbung einreichen.
Euer Jean-Marie
HORIZONTALE LINIE
Der 69-Jährige ist einer der besten Torhüter der Geschichte. Er war belgischer Nationaltorwart (64 Einsätze) und stand beim FC Bayern zwischen 1982 und 1988 insgesamt 156 Mal zwischen den Pfosten. Pfaff war Vizeeuropameister 1980, WM-Vierter 1986, zudem drei Mal deutscher Meister und zwei Mal Pokalsieger. 1987 war er Welttorhüter. Für die AZ ist er nun als Kolumnist tätig.