AZ-Interview zur Europawahl
Maria Noichl: "Wenn unsere Demokratie nicht mehr da ist..."
16. Mai 2019, 9:00 Uhr aktualisiert am 16. Mai 2019, 9:00 Uhr
Die Rosenheimerin Maria Noichl, bayerische Spitzenkandidatin der SPD, spricht im AZ-Interview über Gerechtigkeit, Zukunftsvisionen und den europäischen Friedensgedanken.
Maria Noichl (52) aus Rosenheim ist seit 2014 im Euopaparlament und Spitzenkandidatin der Bayern-SPD zur Europawahl. Bundesweit ist sie auf Platz drei.
AZ: Frau Noichl, durch den verschobenen Brexit werden die Briten am 26. Mai mitwählen. Was bedeutet das für Ihre europäische Partei S & D, die "Sozialisten und Demokraten", denen die SPD angeschlossen ist?
MARIA NOICHL: Die Abgeordneten der Labour-Gruppe würden die S & D unterstützen. Wir würden dann wohl über 20 Kollegen aus Großbritannien in der Fraktion bekommen. Aber auch auf der ganz rechten Seite des Parlaments wäre eine personelle Verstärkung zu erwarten: Alle, die den Brexit wollen, würden dann wieder ins Parlament kommen. Und würden weiterhin - obwohl sie gar nicht mehr da sein wollen - destruktiv dabei sein. Manfred Weber, der ja den Konservativen angehört, würde hingegen keinen Zuwachs in seiner Fraktion bekommen, denn es gibt seine Fraktion in Großbritannien nicht.
Apropos Manfred Weber: Ihn, den CSU-Vize und Spitzenkandidaten der EVP, haben Sie neulich als Schlappschwanz bezeichnet, weil er es nicht geschafft habe, die ungarische Fidesz-Partei aus der EVD zu werfen...
Ich hätte besser Waschlappen sagen sollen. Das Ganze war Teil einer sehr pointierten und launigen Ascherwittwochsrede, die ein bestimmtes Format hat. Und ich rede immer frei, ganz ohne Skript. Da ist das halt im Eifer des Gefechts so passiert. Könnt' ich's nochmal zurückdrehen, würde ich ein anderes Wort wählen.
Noichl: "Wir wollen intelligent und fair regiert werden"
Nochmal zurück zu den rechten Parteien, die innerhalb Europas bereits auf dem Vormarsch sind: Die Wahl wird von Vielen als Schicksalswahl bezeichnet. Worauf steuern wir zu? Vor allem droht Europa ein Rückfall in Zeiten eines machomäßigen Regierens von breitbeinigen Männern. Europa darf nicht wieder zu 28 egoistischen Einzelstaaten werden, die glauben, auf Kosten der anderen besser wegzukommen. Wir müssen weiterhin den Teamgedanken in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen intelligent und fair regiert werden. Europa ist in vielen Teilen der Welt ein Vorbild für einen partnerschaftlichen Politikstil. Was passiert, wenn der verlorengeht, sehen wir aktuell in den Ländern, in denen die hemdsärmeligen Männer bereits wieder in der Verantwortung stehen, in Amerika, aber auch schon in Europa.
Nämlich?
Es werden zum Beispiel Frauenrechte abgebaut. Italien hat Gelder für Frauenhäuser gestrichen. Österreich unterstützt Frauenorganisationen nicht mehr. Als nächstes, das ist jetzt schon absehbar, wird Hetze auf Menschen mit Behinderungen gemacht. Und als übernächstes wird es nicht mehr heißen: "Wir kämpfen gegen Armut", sondern: "Wir werden gegen Arme kämpfen". Dann heißt es auch nicht mehr: "Wir kämpfen gegen Obdachlosigkeit", sondern: "Wir kämpfen gegen Obdachlose". Das bedeutet: wo Demokratie verlorengeht, gehen als allererstes diese individuellen Menschenrechte verloren. Und niemand ist davor sicher, dann nicht auch zu der Gruppe zu gehören, gegen die agiert wird.
Noichl: "Ich bin keine Traumtänzerin"
Also sollten überzeugte Europäer aktiver gegen Populisten vorgehen? Sind wir zu bequem?
Ich denke, viele Menschen können es sich nicht vorstellen, dass es wirklich zu einem Zurückdrehen der Uhr kommen könnte. Manche halten es auch für absolut nicht möglich, dass es irgendwann wirklich wieder Einschränkungen unseres freien Lebensstils geben könnte. Die Menschen, die hier leben, fühlen sich zu Recht frei. Wenn unsere Demokratie irgendwann nicht mehr da ist, ist es zu spät.
Thema Sicherheit: Dass es in der EU künftig eine gemeinsame Entwicklung von Waffensystemen geben soll, da sind sich alle einig. Allerdings haben viele EU-Länder zur Bedingung gemacht, dass dann auch der Verkauf in umstrittene Drittländer möglich sein muss. Die SPD verfolgt aber eine restriktive Exportpolitik. Da sitzen Sie in einer ziemlichen Zwickmühle, oder?
Das Allerschlimmste ist es, wenn man Rüstungspolitik mit Wirtschaftspolitik verknüpft. Zu sagen, wir müssen Waffen produzieren, weil das gut für unsere Wirtschaft ist, halte ich für absoluten Wahnsinn. Die Produktion von Rüstungsmaterial darf lediglich eine dienende Funktion haben. Aber natürlich müssen wir die Möglichkeit haben, uns selber gut zu verteidigen - ich bin ja keine Traumtänzerin. Für mich ist ein Ziel, unsere Positionen in die europäischen Verhandlungen miteinfließen zu lassen. Nämlich, dass Europa auch Frieden in die Welt bringen muss. Und das geht nicht, wenn wir eine von Wirtschaftsgedanken gesteuerte Waffenindustrie haben.
Noichl: "Diskussion hat gezeigt, dass ich unachtsam war"
Nochmal zurück zu zwei nationalen Themen: Ihr Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert hat neulich mit seiner Idee zur Verstaatlichung großer Konzerne für sehr unterschiedliche Reaktionen gesorgt, auch innerhalb der SPD. Wie stehen Sie persönlich dazu?
In Bayern gibt's den Spruch "Da Deifi scheißt immer auf den größten Haufen." Und im Prinzip prangert Kevin Kühnert doch genau das an: Es gibt Menschen, die - leistungslos - immer reicher werden, und die Ärmeren wissen jetzt schon, dass ein Aufstieg schwer ist. Dass er dann eine Vision für eine Lösung hat, das kann ich aus seiner Sicht gut verstehen. Das ist sein Job als Juso-Vorsitzender.
Auch Sie sorgten jüngst für Diskussionen, nachdem Sie am vergangenen Samstag ein Foto einer Wahlkampfaktion der Jusos in Ansbach auf Facebook gepostet hatten. Es zeigte einen Blechdosen-Turm für einen Wurf-Wettbewerb - mit aufgeklebten Gesichtern von Politkern der CSU und CDU, von der AfD sowie von Hitler. Dazu schrieben Sie: "Ein super Infostand der JUSO Ansbach. Danke! Ihr seids Spitze!" Was war da los?
Der Titel über meinem Post bezog sich ausschließlich auf den unermüdlichen Einsatz der Jusos Ansbach bei Wind und Wetter im Europawahlkampf. Keinesfalls sehen ich und die Jusos Ansbach die abgebildeten demokratischen Politiker in einer Reihe mit abgebildeten Nazis. Das zu Recht viel kritisierte Bild auf meiner Facebookseite habe ich gelöscht, und ich habe mich ausdrücklich entschuldigt. Es war und ist nie meine Absicht gewesen, Menschen zu verletzen. Die Diskussion auf meiner Facebookseite hat mir gezeigt, dass ich unachtsam war und die Aktion zunächst falsch eingeschätzt hatte. Ich bedanke mich für die sachliche Kritik, die mich erreicht hat. Menschen machen Fehler. Ich habe einen Fehler gemacht und mich dafür entschuldigt.
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