Politik

Ian Kershaws "Der Mensch und die Macht": Kann der Einzelne die Welt verändern?

Oder ermöglichen es erst besondere Umstände, das eigene und andere Länder zu prägen? Der BriteIan Kershaw blickt auf zwölf Menschen, die Geschichte machten - in Europa und darüber hinaus.


Josef Stalin 1939.

Josef Stalin 1939.

Von Martina Scheffler

Wie viel Macht haben die sogenannten Mächtigen tatsächlich? Welchen Einfluss haben politische Führer auf die Geschichte ihres Landes oder gar ihres Kontinents?

Dieser Fragen hat sich einer der angesehensten Historiker unserer Zeit angenommen, der Brite Ian Kershaw. In "Der Mensch und die Macht" seziert er die Karrieren von elf Männern und einer Frau, die Europa im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben. Positive Werte spielen dabei keine Rolle - entscheidend ist für Kershaw, inwieweit tatsächlich die Handlungen und der Charakter der jeweiligen Person entscheidend für das Geschehen waren, das ohne sie anders verlaufen wäre: Er nennt sie folgerichtig "Erbauer" und "Zerstörer" Europas.

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Reichspräsident Paul von Hindenburg (l) und Adolf Hitler 1933.

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Michail Gorbatschow 1989 in Moskau.

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Helmut Kohl am 3.10.1990.

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Margaret Thatcher 1982 in Windsor.

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Josip Broz Tito.

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Winston Churchill.

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Der Mensch und die Macht von Ian Kershaw

So ist das Urteil darüber, wer den Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am meisten geprägt hat, eindeutig: Adolf Hitler, gefolgt, wenn man so sagen will, von Josef Stalin - den Kershaw als den größten Tyrann unter den Porträtierten bezeichnet - und Wladimir Lenin.

Hitlers Hinterlassenschaft sei ein bleibendes Trauma nicht nur für die deutsche Nation, sondern für den ganzen Kontinent, schreibt Kershaw. "Er war die Haupttriebkraft des katastrophalsten Zusammenbruchs der Zivilisation der modernen Geschichte." Und: "Ohne Hitler kein Holocaust." Und doch war der Weg Hitlers an die Macht nicht zwangsläufig, wurde erst durch bestimmte Umstände ermöglicht.

Kershaw zeigt auf, was die Machtmenschen eint: Krieg war für fast alle der wichtigste Wegbereiter. Hitler, Spaniens Diktator Franco, der jugoslawische Machthaber Josip Broz Tito, Stalin, Lenin, Italiens Diktator Benito Mussolini, der britische Premierminister Winston Churchill, der französische Präsident Charles de Gaulle, die britische Premierministerin Margaret Thatcher - ihnen allen wurde entweder durch Krieg der Weg an die Macht geebnet, sie gelangten durch ihn an die Staatsspitze oder festigten durch ihn ihre Macht.

Anders war es beim ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, dem "Kanzler der Einheit" Helmut Kohl und dem letzten Sowjetführer Michail Gorbatschow, bei denen Kriege keine Rolle spielten.

Eines hatten aber Kershaw zufolge alle: eine außerordentliche Entschlusskraft, "unbändigen Erfolgswillen" und das Gefühl, "eine Mission zu haben".

Jeder sei instinktiv autoritär gewesen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und mehr oder minder eingehegt durch die politischen Systeme, in denen sie agierten. Demokratien, konstatiert Kershaw, ließen weniger Spielraum, und doch müssten auch demokratische Führer eine gewisse Rücksichtslosigkeit besitzen.

Wer sich andere zu ihrer Zeit erfolgreiche Kanzler anschaut wie Helmut Schmidt oder Angela Merkel, wird zustimmen.

Was ebenfalls alle eint: Es war ihnen eben nicht vorbestimmt, zur späteren Größe zu gelangen. Hätte man ihn nicht im Zweiten Weltkrieg zum Premier gemacht, wäre Churchill ein bekannter, aber nicht sehr erfolgreicher Politiker geblieben.

Auch Kohl, so zeigt es Kershaw auf, hatte keine sonderlich erfolgreichen Jahre als Kanzler, bevor die von ihm so genannte "geschichtliche Stunde", das Fenster zur Wiedervereinigung der deutschen Staaten, sich öffnete.

Manche Züge der Persönlichkeit, so Kershaw, seien nur in ihrer Zeit erfolgsfördernd gewesen. Charisma ist also auch von Umständen abhängig.

Michail Gorbatschow ist für den Historiker ein Sonderfall: kein Diktator, aber auch kein Demokrat, obwohl er dazu geworden sei. Gorbatschow ist für Kershaw der Antipode zu Hitler: höchst gegensätzlich in Persönlichkeit und Machtausübung. Er sei die prägende Persönlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Bei Gorbatschow könne man sagen, so Kershaw, "dass ein Einzelner die Geschichte verändert hat - und zwar zum Besseren".

Kershaw schreibt anschaulich, verständlich auch für Laien. Im Vergleich der zwölf Porträtierten sind auch sonst eher unbekannte Gemeinsamkeiten zu erkennen, wie etwa das ausgezeichnete Gedächtnis, über das viele verfügten, und die geringe Körpergröße vieler der männlichen Politiker. Und gerade bei russischen Führern ist man versucht, Parallelen zur Gegenwart oder Erklärungen für die aktuelle Situation zu suchen.

Kershaw, der das Buch im Oktober 2021 vollendete, spricht die autoritären Machthaber unserer Zeit an, sieht aber den Chinesen Xi Jinping als Wichtigsten von ihnen und China als größte geopolitische Gefahr. Hier hat die Geschichte den Historiker - vorerst - überholt.

Was Kershaw aber herausstellt und was angesichts der Krisen, die die Welt erschüttern, bedenkenswert ist: Einzelnen Personen die Macht zu überlassen, die ein Allheilmittel versprechen, ist kein Weg zum Besseren. "Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst", warnt der Brite vor Vorstellungen, ein starker Mann oder eine starke Frau allein könne alles richten. "Ich selbst wäre froh, wenn ,charismatische' Persönlichkeiten gänzlich außen vor blieben."

Ian Kershaw: "Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert", DVA, 36 Euro, 588 Seiten.i