Politik

Historiker über den Putschversuch von München: "Hitler hatte keinen Plan"

Der Putsch in Münchenam 9. November 1923 scheiterte - auch am NSDAP-Chef selbst.Ein Historiker zu Vorgeschichte und Idolen.


Sven Felix Kellerhoff: "Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht"

Sven Felix Kellerhoff: "Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht"

Von Martina Scheffler

AZ-Interview mit Sven Felix Kellerhoff: Der Journalist ("Welt") und Historiker, Jahrgang 1971, hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter "Die NSDAP" und ",Mein Kampf' - Die Karriere eines deutschen Buches".

AZ: Herr Kellerhoff, Sie haben für Ihr Buch "Der Putsch" zahllose Archivalien ausgewertet - was ist die wichtigste neue Erkenntnis, die Sie daraus ziehen konnten?

SVEN FELIX KELLERHOFF: Dieser Putsch kann nicht verstanden werden, wenn man ihn nur anhand der wenigen Tage im November betrachtet. Er gehört in den großen Zusammenhang der Auseinandersetzungen im Jahr 1923. Hitler entschied auch erst am 6. November 1923, mit seinen Anhängern loszuschlagen. An sich nämlich war er eingebunden in das Projekt "Marsch auf Berlin", das der Generalstaatskommissar Gustav von Kahr mit rechten bis reaktionären Kräften in Bayern betrieb. Dieses Projekt scheiterte, weil Reichspräsident Friedrich Ebert die Reichsexekution gegen Sachsen durchsetzte. Dort regierte die linke Variante der Demokratiegegner, die Kommunisten, zusammen mit der SPD. Damit zwang Ebert die SPD aus der Reichsregierung, und die Reichswehr stellte sich auf seine Seite. Deshalb verzichtete auch von Kahr, und erst in diesem Moment entschied sich Hitler. So erklärt sich das Improvisierte am Novemberputsch, diese Mischung aus monatelanger Vorbereitung und operettenhafter Umsetzung. Eigentlich hätte Mitte November 1923 die "Ordnungszelle Bayern" gegen Berlin vorgehen wollen, es gab die entsprechenden Befehle. Dass sich Hitler erst am 6. November entschied, allein loszuschlagen, war bisher nicht recht nachvollziehbar: so eine lange Vorbereitung und dann ein absurd kurzfristiges Umsetzen. Dabei ergibt sich die Erklärung aus Akten, die sich jeder schon lange hätte ansehen können. Die liegen seit Jahrzehnten zugänglich im Staatsarchiv München, inzwischen sogar teilweise digitalisiert.

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Nazi-Truppen in München.

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Hitler (3.v.r.) mit Ludendorff (4.v.r.).

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Aufmarsch von Nationalsozialisten auf dem Marsfeld am 9. November 1923.

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Sven Felix Kellerhoff

Sie kritisieren, der Hitler-Putsch sei bisher wenig untersucht worden. Was könnten die Gründe sein und was hat Ihr Interesse geweckt, neben dem Wunsch, eine Lücke zu füllen?

Sicherlich ist der Jahrestag ein Anlass, auch für Interesse beim Publikum. Ich möchte aber auch immer neue oder bisher nicht verwendete Quellen nutzen, sie zugänglich machen für eine breitere Öffentlichkeit. Jeder, der mehr wissen will, kann sich nach Lektüre meines Buches selbst ins Archiv setzen und die Sachen anschauen. Alles, was ich zitiere, ist für jeden Interessierten zugänglich.

Was muss man über den Putsch wissen, um den weiteren Werdegang Hitlers zu verstehen?

Hitler hat keinen Plan verfolgt, sondern reagiert sehr oft spontan, dann allerdings extrem aggressiv. Er hatte nur zwei durchgehende Motive: den Rassenwahn und den Bolschewistenhass. Beides ist bei ihm untrennbar miteinander verschränkt. Alles andere in seinem Handeln ist volatil. Man sieht das an seinem Agieren 1923 ebenso wie später: Er sitzt den lieben langen Tag in Restaurants und palavert Stunde um Stunde. Im Gegensatz dazu war etwa Stalin ein echter Aktenfresser, der alles abgezeichnet hat. Hitler ist ein Getriebener: Der Polizeichef Hans von Seißer kommt am 4. November 1923 zurück aus Berlin und berichtet Gustav von Kahr, dass die Reichswehr beim "Marsch auf Berlin" nicht mitmachen werde - damit bricht das ganze Konstrukt Kahrs in sich zusammen. Am 6. sagt Kahr den "Marsch" ab und informiert die Vertreter der verschiedenen vaterländischen Organisationen. Daraufhin entscheidet sich Hitler loszuschlagen. Kahr will am 8. eine programmatische Rede halten - nur deshalb zieht Hitler seinen für die Nacht auf den 11. November geplanten Putsch auf den Abend des 8. vor.

Sie schildern die damalige Stimmung in der Bevölkerung, auch die Angriffe auf Juden in Mün-
chen bereits seit 1920, vom Bespucken bis zu tätli-
chen Angriffen. War Bayern da ein Einzelfall im Reich oder wie sah es anderenorts aus?

München war eindeutig am radikalsten. Die größte antisemitische Vereinigung, der Deutsch-Völkische Schutz- und Trutzbund, bestand in ganz Deutschland, aber seine Mitglieder wurden nur in Ausnahmen gewalttätig. Die NSDAP dagegen, zumal in Oberbayern, übte Gewalt viel häufiger und radikaler aus. Gerade das machte sie anziehend für viele junge Männer.

Wann und warum genau scheitert der Putsch?

Als es nicht gelingt, an die Reichswehr heranzukommen und die Landespolizei auf die Seite der Putschisten zu ziehen. Wäre Letzteres gelungen, hätte es eventuell einen Erfolg in München geben können, den aber die Reichswehr niedergeworfen hätte. Hitler gewinnt aber neben seinen eigenen Leuten nur den Offiziers-Nachwuchs der Infanterieschule.

Man bekommt den Eindruck, die Stimmung in der Bevölkerung sei durchaus positiv für Hitler gewesen. Hätte es auch leicht anders ausgehen können? Anders gesagt: Waren das nur Sympathien ohne Bereitschaft zum Handeln, oder wäre mehr drin gewesen?

Da wäre auf jeden Fall mehr drin gewesen. Man muss für diese Improvisation Hitlers am 8. und 9. November 1923 geradezu dankbar sein, sonst hätte noch etwas ganz anderes passieren können. Was genau dabei herausgekommen wäre, ist schwierig zu beurteilen. Eine Machtergreifung wie 1933 hätte es 1923 nicht gegeben, dafür war die NSDAP noch längst nicht stark genug. Aber gerade in München ist die Stimmung nach den Schüssen an der Feldherrnhalle derart pro-nationalsozialistisch, dass es einem die Schuhe auszieht. Das bleibt so bis 1924, danach hat die NSDAP in Oberbayern eher unterdurchschnittlichen Erfolg bei Wahlen.

An entscheidenden Machtpositionen saßen 1923 Menschen, die die Republik verteidigten, teilweise auch nolens volens. Was waren deren Motive? Doch nicht die Zuneigung zur Demokratie?

Nein, gar nicht. Friedrich Ebert etwa ist natürlich Überzeugungsdemokrat, aber er spürt, dass Republik und Demokratie bei der Masse der Menschen noch nicht angekommen sind. Er versucht, einen gangbaren Weg zu finden, um das Beste für das Land zu erreichen. Er ist dafür bereit, sogar seine eigene Partei, die SPD, über die Wupper gehen zu lassen. Die Reichsexekution gegen Sachsen richtet sich gegen eine SPD-geführte Regierung in Dresden. Hans von Seeckt (Chef der Heeresleitung der Reichswehr, d. Red.) ist Monarchist, er hasst die Republik, aber erkennt Ebert als Staatsoberhaupt an, weil er sich nicht vorstellen kann, gegen den bestehenden Staat vorzugehen. Gustav von Kahr sagt, der autoritäre Staat ist entscheidend. Hitler hat gar keine klare Vorstellung, er ist nur fasziniert von Mussolini.

Vor Mussolini, 1922 in Italien an die Macht gekommen, hatten die Deutschen Angst, und obwohl sie durchaus Ähnlichkeiten Hitlers mit ihm sahen, fürchteten sie den NSDAP-Chef offenbar nicht - warum nicht?

Die Menschen damals haben als Information meist nur Zeitungen und Stammtische. Die Deutschen, die nicht Nationalsozialisten sind, sehen in ihm schon einen gefährlichen Politiker, der anti-deutsch ist. Hitler selbst hält Mussolini eine ganz seltsame Nibelungentreue, obwohl dessen Politik in Bezug auf Südtirol, das zwangsitalienisiert wurde, allem widerspricht, was er denkt. Aber: Auch Linke bewundern Mussolini. Das ist der Mythos des starken Mannes an der Spitze. Etwas, das leider auch heute manche an Putin oder Orbán toll finden. Eine Bevölkerung, die solchen "starken Männern" anhängt, will von den Schwierigkeiten der Demokratie, dem Aushandeln von Kompromissen befreit werden. Die akzeptiert es dann erstaunlicherweise auch, wenn nur "der Chef" sagt: "So wird es jetzt gemacht." Selbst wenn mehr von ihren Interessen unberücksichtigt bleibt, als wenn sie verhandelt hätten. Vor dem Komplexen haben sie Angst.

Sven Felix Kellerhoff: "Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht", Klett-Cotta, 368 S., 19,99 Euro, ISBN: 978-3-608-11991-6i