Politik

LMU-Historiker über Russlands Geschichte: "Rückgriff auf vergangenen Glanz"

Wladimir Putin sieht sich als historischen Akteur. Wie das Zarenreich das Heute beeinflusst und was Europas Zukunft ist, erläutert ein Experte.


Blick auf das demontierte sowjetische Denkmal der ukrainisch-russischen Freundschaft, das 1982 als Symbol für die "Wiedervereinigung" in Kiew errichtet wurde.

Blick auf das demontierte sowjetische Denkmal der ukrainisch-russischen Freundschaft, das 1982 als Symbol für die "Wiedervereinigung" in Kiew errichtet wurde.

Von Martina Scheffler

AZ: Herr Professor Schulze Wessel, beim Lesen Ihres Buches fallen die zahlreichen Parallelen historischer Vorgänge zur aktuellen Situation des Ukrainekrieges auf. Ist dies ein besonders drastisches Beispiel in Europa, dass Geschichte sich zu wiederholen scheint oder zumindest eine bedeutende Rolle spielt?

MARTIN SCHULZE WESSEL: Ich versuche zu zeigen, dass seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Russland etwas Neues beginnt - der Aufbau eines Imperiums. Das bedeutet eine Politik der Unterordnung der Ukraine und auch Polens unter russischen Einfluss und eine Bündnispolitik mit deutschen Staaten, damals mit Preußen und der Habsburgermonarchie. In diesem Rahmen bewegt sich die Geschichte Russlands im 18. und 19. Jahrhundert, mit Folgen auch noch im 20. Jahrhundert. Dieser Rahmen wurde durch die imperiale Politik seit Peter I. (1672 - 1725, d. Red.) geschaffen. Er hat zur Folge, dass sich Ereignisse immer wieder ähnlich abspielen. Es gibt immer wieder die Niederschlagung von polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen und später einen Kampf gegen ukrainische Versuche, unabhängig zu werden. Man erkennt Ähnlichkeiten zwischen der russischen Politik gegenüber Polen im 19. Jahrhundert und der Politik, die Russland gegenüber der Ukraine heute betreibt.

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Skulpturen eines Denkmals für Katharina II. in Odessa, die Gründerin der Stadt. Einwohner stimmten für die Demontage.

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Katharina II., geborene Sophie Friederike Augusta von Anhalt-Zerbst.

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Martin Schulze Wessel: "Der Fluch des Imperiums"

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Martin Schulze Wessel: Der Historiker ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Uni versität München und unter anderem Mitglied der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission.

Sie schreiben, schon vor dem Ersten Weltkrieg sei die Ukraine dem russischen Imperium als gefährlichste Bedrohung erschienen. Warum?

Zum einen stellte man sich aus russischer Perspektive die eigene Nation als eine Großnation vor, die auch die Belarussen und die Ukrainer umfasste. Zum anderen meinte man, dass das russische Imperium, das Zarenreich, nur bestehen konnte, wenn es über die Ukraine herrschte. Im 19. Jahrhundert gab es die Befürchtung, dass die Ukraine ein zweites Polen werden könnte. Polen gehörte bis 1917 zum Zarenreich, aber es gab Bestrebungen, Autonomie zu erreichen. Die russische Regierung fürchtete, dass dieser polnische Geist von Freiheit auf die Ukraine übergreifen würde, da die Kontakte zwischen den beiden Völkern eng waren. Man kann heute einiges wiedererkennen: Auch für Wladimir Putin gilt, dass die Ukraine ein Bestandteil der russischen Nation sein soll, die er sich nicht als die Gemeinschaft der ethnischen Russen, sondern als eine ostslawische Großnation vorstellt - egal ob die Ukrainer dazugehören wollen oder nicht. Zugleich glaubt er, dass Russland als Imperium ohne die Ukraine nicht bestehen kann. Das macht die Besonderheit im russisch-ukrainischen Verhältnis aus und begründet die radikale Gewaltanwendung, durch die sich der russische Angriffskrieg auszeichnet.

Sie zitieren einen russischen Historiker des 18. Jahrhunderts mit den Worten, dass "in Kleinrussland nicht nur das Land, sondern auch die Menschen seit alters her russisch sind und daher in die Souveränität Ihrer Majestät als Besitzerin des allrussischen Staates gehören". Klingt ganz nach Putin, der der Ukraine das Existenzrecht abspricht, weil sie gar kein eigener Staat sei. Wie sehr beeinflussen diese jahrhundertealten Ansichten das Denken nicht nur Putins, sondern auch der breiten Öffentlichkeit in Russland?

Das hat eine weite Verbreitung, was vor allem mit der prägenden Wirkung der russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Historiker haben in vielen Werken versucht zu begründen, dass die Geschichte Russlands als gemeinsame Geschichte der Ukrainer, Belarussen und Russen in der Kiewer Rus (mittelalterliches Großreich, d. Red.) begonnen hat und der Moskauer Staat ihr legitimer Erbe war. Aus dieser Sichtweise leiten russische Historiker ab, dass es berechtigt war, die Ukraine und Belarus, die inzwischen zum polnischen Staat gehörten, in den eigenen Staat "zurückzuholen". Diese Erzählung hat sich in alle Schulbücher verbreitet. Sie hat bis heute eine enorme Bedeutung für die russische Öffentlichkeit.

Schon nach der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 griff Nachfolger Alexander III. auf "lang zurückliegende Geschichte zurück", wie Putin jetzt - ist das ein Zeichen von Schwäche, heute wie damals?

Russland könnte aufgrund seines Rohstoffreichtums ein starkes Land sein. Aber in gewisser Hinsicht ist es schwach, denn es verfügt über keine klare Vorstellung von der eigenen Identität. Will Russland eine Nation sein oder ein Imperium? Wo enden die Grenzen des Russischen? Gerade in Krisenzeiten blühten in Russland bereits im 19. Jahrhundert erstaunliche Vorstellungen von der eigenen Größe und der fast grenzenlosen Ausdehnung, die Russland beschieden sei. Wir erleben das heute wieder, ein russischer Duma-Abgeordneter forderte vor kurzem - während die russische Armee in der Ukraine kaum vorankommt - die Eroberung von Istanbul, ja der gesamten Türkei. Gerade in Krisen greift man auf vergangenen Glanz zurück. Putin stützt sich auf Vorbilder wie Alexander III., der sich selbst krampfhaft darum bemühte, die eigene Herrschaft zu stabilisieren, indem er eine spirituelle Einheit von Zar und Volk beschwor. Gerade in seiner Regierungszeit gab es eine ganz starke antieuropäische, antiliberale Haltung. Alexander III. verachtete den Westen, pflegte einen Kult der Stärke und eine Sprache der Überheblichkeit - eine direkte Parallele zu Putin, der den Zaren als Vorbild begreift. Putin arbeitet an der Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion, aber seine historischen Vorstellungen gehen weiter zurück, in das imperiale Zarenreich.

Ihrer Ansicht nach ist die russische Identität noch immer ungeklärt - was macht die Beantwortung dieser Frage so schwierig?

Es wird oft gesagt, die Ukraine sei eine junge oder verspätete Nation. Einige sprechen ihr sogar die Nationalstaatlichkeit ab. Das ist alles Unsinn. Die Ukraine hat eine Geschichte als Nationalstaat. Bei Russland scheint es zwar so, als ob es das schon seit 1000 Jahren gegeben hätte - was richtig ist, wenn man auf den russischen Staat schaut. Aber Staat und Nation sind nicht dasselbe. Russland ist sich im 19. Jahrhundert nie sicher gewesen, wie weit die eigene Nation reicht. Ist sie beschränkt auf jene, die man auch ethnisch als Russen bezeichnen könnte, umfasst sie auch die anderen Ostslawen, also Belarussen und Ukrainer, oder ist sie mit dem Imperium nahezu identisch? Auch heute ist die Russische Förderation kein rein russischer Staat, sondern verfügt über zahlreiche andere Nationen und Ethnien.

Schon Puschkin, den Sie zitieren, sagte Richtung Westen: "Ihr versteht Russland nicht." Die Deutsche auf dem Zarenthron, Katharina die Große, heißt es, hat sich im Umgang mit der russischen Mentalität nie vertan. Wie sehr haben die Deutschen im Laufe der Geschichte Russland verstanden?

Die Deutschen, die im Zarenreich lebten, kannten die Verhältnisse dort, sind aber gleichzeitig immer "die Anderen" geblieben, mal die Karikatur des peniblen Deutschen, mal die bewunderten effizienten und ordnungsliebenden Deutschen. In den internationalen Beziehungen ist Deutschland aus russischer Perspektive ein Land, das zwischen Russland und Europa steht, gewissermaßen ein "swing state". Russland hat mit Preußen sehr lange intensiv kooperiert. Es gibt eine traditionelle relative Nähe Russlands zu den deutschen Staaten im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten. Das macht die Zeitenwende aus in deutsch-russischen Beziehungen: Wir korrigieren nicht nur Fehler von einigen Jahren, die etwa im Zeichen von Nord Stream 2 gemacht worden sind, sondern es ist eine Neuverortung der deutschen Politik von mehreren Jahrhunderten, seit Beginn des 18. Jahrhunderts.

Die besondere Geschichte zwischen Deutschen und Russen, auch der deutsche Einfluss im 18. und 19. Jahrhundert - wie wird der heute gesehen, in Russland und von Putin?

Das neuzeitliche Russland seit dem 18. Jahrhundert ist ganz wesentlich von deutscher Politik und Wissenschaftlern geprägt worden, es gab engste Literatur-Verbindungen. In gewissem Maße ist das moderne Russland seit Peter dem Großen ein deutsches Produkt, wobei es natürlich auch französische, italienische und andere Einflüsse gab. Die Kehrseite: Diese engen deutsch-russischen Beziehungen gingen zulasten Polens und anderer mitteleuropäischer Länder, auch der Ukraine. Die staatenpolitische Verbindung zwischen Russland und Deutschland bestand darin, dass man diesen Saum von Staaten zwischen den beiden Ländern gemeinsam beherrscht hat. Das ist gescheitert. Das macht die tiefe Ambivalenz der deutsch-russischen Beziehungen aus.

Angesichts der Parallelen - kann man anhand der Geschichte Vermutungen anstellen in Bezug auf den weiteren Verlauf des aktuellen Krieges?

Generell spielt im Krieg der Kampfgeist eine Rolle. Die ukrainischen Soldaten wissen, wofür sie kämpfen: ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit, ihre Existenz. Demgegenüber stehen auf russischer Seite in vielen Fällen Söldner, die höchstens für eine materielle Belohnung kämpfen. Das macht einen großen Unterschied. Ich bin zuversichtlich, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität wieder herstellen wird, sofern sie vom Westen kontinuierlich unterstützt wird.

Wie wird sich dann Europas Staatengefüge ändern?

Man wird wieder zu einem System mit starken Staaten in Mitteleuropa zurückkehren. Es wird eine Rückkehr sein vor die Zeit von Peter I.

Ist das gut?

Ja. Wir sind überzeugt, dass wir Sicherheit auf absehbare Zeit nur gegen Russland erreichen können. Dafür braucht Europa starke Staaten an der Grenze Russlands. Solche Staaten können Polen, die Ukraine und das Baltikum sein. Dabei geht es nicht um eine Aggression gegen Russland, sondern um die Zurückdrängung des russischen Angriffs. Ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht, dass eine blau-gelbe Fahne auf dem Kreml wehen wird.


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Martin Schulze Wessel: "Der Fluch des Imperiums", C.H.Beck, 352 Seiten, 28 Euro. Der Autor spricht am Montag, 27. März, 19 Uhr, im Literaturhaus mit "Zeit"-Osteuropakorrespondent Michael Thumann über "Russland. Das gefährlichste Regime der Welt". (Eintritt zehn bis 15 Euro, Livestream: fünf bis 15 Euro.)i