AZ-Reportage
Giesings Geisterhöhen: So leise war's bei den Löwen noch nie
25. März 2020, 6:12 Uhr aktualisiert am 25. März 2020, 6:12 Uhr
Das Grünwalder Stadion verwaist, die Straßen leergefegt und die Boazn sind zu. Das Münchner Viertel, in dem das Löwenherz am kräftigsten und lautesten schlägt, ist jetzt ein Ort der Stille.
Giesing - Grünwalder Straße, Ecke Volckmerstraße. Kurz nach Mittag. Eine ältere Dame, bestimmt schon in den Siebzigern, schiebt ihren Rollator den Gehsteig entlang. Richtung Wettersteinplatz. Sonst ist weit und breit kein Passant zu sehen. Ihr blaues Kopftuch, wie es ältere Damen eben tragen, hat sie unter dem Kinn fest zugeschnürt. Saukalt ist er schließlich, dieser späte Wintereinbruch Ende März. Mit strengem Gesicht macht sie einen weiten Bogen, als sie mich stehen sieht. Und doch rutscht ihr ein schmales Grinsen aus, als sie in gepflegtem Boarisch herüberruft: "Mei, endlich is moi a Ruah!" Eine Meinung, die viele tausend Löwen-Fans ganz gewiss nicht teilen.
Coronavirus: Zwangspause der Dritten Liga
Mein Blick ist auf das altehrwürdige Grünwalder Stadion gerichtet, die Heimspielstätte des TSV 1860. Öde und verlassen liegt sie da in diesen Tagen. Für manch Anwohner eine wahre Freud', wie man hört. Zugleich der Löwen Leid: Die beiden letzten Heimspiele gegen den MSV Duisburg (14. März) und am vergangenen Samstag gegen die Würzburger Kickers sind längst abgesagt. Dabei hätte 1860 erstmals in der laufenden Saison auf einen Aufstiegsrang springen können. Hätte Pflichtspiel Nummer 15 in Serie ohne Niederlage einfahren können. Hätte, hätte. Der Konjunktiv bringt Sechzig weder Punkte, noch Kohle. Bekanntlich befindet sich der Spielbetrieb der Dritten Liga in der Zwangspause. So allgegenwärtig das neuartige Coronavirus in den Medien ist und auch unweit des Stadions an den Zeitungskästen prangt, so leergefegt sind Giesings Höhen auf diesem Streifzug durch Sechzger-Viertel.
Auf dem Weg vom Candidplatz hoch zum Sechzgerstadion, wo die Blauen ihren Marsch zum Stadion starten: kein Mensch. Vorne, wo die Tegernseeer Landstraße die Grünwalder kreuzt, zumeist vollgestopft mit Autos: kaum Verkehr. Wienerwald und Grünspitz, quasi DIE Treffpunkte der Sechzger-Szene direkt ums Eck? Zugesperrt und verlassen. Und auch kein Gegner auf dem Spielfeld, den man sehen, hören, spüren oder sichtbar bekämpfen könnte. Wie ein unsichtbarer Feind hängt das hochansteckende Virus über dem Viertel, der Stadt, der ganzen Welt. Für alle Löwen könnte die Lage derzeit trister kaum sein, droben, auf den Giesinger Geisterhöhen.
"Das Grünwalder ist leer, die Kneipen sind leer, Giesing ist leer. Das ist echt ein blöder Anblick, wobei es für uns alle zur Zeit größere Probleme gibt. Ich hoffe trotzdem, dass wir die Löwen bald wieder kicken sehen", erklärt Simon Pearce der AZ am Telefon, als ich auf der anderen Straßenseite vor dem Haus seines Kumpels stehe. Der Comedian ist als bekennender 1860-Fan Stammgast in Giesing und begutachtete seine Löwen schön öfter von dort aus dem Dachfenster. Momentan ist Sendepause. "Ich schaue mir vor lauter Langweile schon alte Spiele an", erzählt Pearce. Klar: Ausgangsbeschränkungen machen erfinderisch, wie sein Griff zu glanzvollen Erinnerungen der jüngeren Vereinshistorie zeigt: "Ich hab mir das legendäre Derby reingezogen, als uns Thomas Riedl zum Sieg gegen die Bayern geschossen hat." Im Jahre 1999 war das. Ziemlich lange her.
Giesing: Wirte bangen um ihre Existenz
Zugesperrt haben längst auch die Wirte, deren einschlägige Bars und Boazn erst dafür gesorgt haben, dass das Löwen-Herz in Giesing wieder pocht, in ihnen pulsiert. Für sie muss es sich wie eine Ewigkeit anfühlen, seitdem weiß-blaue Menschentrauben ihre Lokale unsicher machten. Vorbei am "Blue Adria" gegenüber der Ostkurve. In die Tegernseeer Landstraße hinein, wo sich mit dem Augustiner-Stüberl "Trepperlwirt", dem "Riffraff", dem "Altgiesing" und weiter Richtung Silberhornstraße dem "Café Schaumamoi" gleich mehrere berühmt-berüchtigte Löwen-Kneipen befinden.
Rund um die Spiele der Sechzger sind die Zapfhähne dort so gut wie immer auf. Jetzt hängt kein einziges Bierfass daran. Dafür Zettelchen in ihren Eingangstüren: geschlossen. Alle bangen sie um ihre Existenz. "Es stimmt einen schon traurig, wenn man durchs Viertel geht, die menschenleeren Straßen sieht und nicht weiß, wann es wieder weitergeht", schreibt Robert Völtl der AZ und fragt sich, wann er wieder anzapfen kann: Eines weiß der "Trepperlwirt"-Betreiber: "Ein paar Monate kann und wird das keiner durchhalten." Das Giesinger Bräu, wo im dazugehörigen Stehausschank auch schon viele berauschende 1860-Siege begossen wurden, kann zumindest den Lieferverkehr aufrechterhalten, wie ein Taferl in der Einfahrt zeigt.
Grünwalder Stadion als Sehnsuchtsort
Zurück zum Stadion, am Ort der legendären Aufstiegssause mit Doppeldecker-Bus vorbei zum Fußweg Richtung Vereinsgelände. Zehn Minuten später stehe ich vor ausgestorbenen Trainingsplätzen. Lediglich ein XXL-Bild an der Rückseite des (geschlossenen) Stüberls zeigt das volle, weiß-blaue Löwenmeer im Sechzgerstadion. "Ich vermisse es", schreibt 1860-Profi Herbert Paul bei Instagram nebst einem Foto der Heimstätte. "Wir auch, Heppi", antworten die Löwen.
Ob für Spieler, Fans und Wirte: Für alle avanciert das Grünwalder Stadion derzeit zum Sehnsuchtsort. Es bleibt die Zuversicht, dass die Menschen auf Giesings gespenstischen Höhen zumindest das Kontaktverbot beherzigen, damit die Corona-Krise bestmöglich überstanden werden kann - und irgendwann im Sechzger-Viertel wieder die Zeit gekommen ist für eine andere Art des Ausnahmezustands: Für die schönste Nebensache der Welt.
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