Straubing

Zweieinhalb Stunden in der Kälte

Prozess um versuchten Mord: Gericht lässt Tatnacht an der Westtangente rekonstruieren


Weil der Termin Teil der Gerichtsverhandlung ist, sind keine Fotos während der Rekonstruktion erlaubt. Hier sammeln sich die Beteiligten vor Beginn.

Weil der Termin Teil der Gerichtsverhandlung ist, sind keine Fotos während der Rekonstruktion erlaubt. Hier sammeln sich die Beteiligten vor Beginn.

Von Christoph Urban

Hat ein 52-Jähriger in der Nacht vom 1. Mai versucht, zwei Polizisten zu überfahren, die ihn - angetrunken, ohne Fahrerlaubnis - zur Kontrolle herauswinken wollten? Die Anklage lautet jedenfalls auf zweifachen versuchten Mord, die zwei Polizisten sagen: Der Mann habe zwar abgebremst, dann aber per Kickdown beschleunigt, sie retteten sich knapp mit einem Sprung.

Der Vorsitzende Richter Dr. Michael Hammer hat nun eine Tatort-Rekonstruktion angeordnet. Die Schwurgerichtskammer will selbst sehen und hören: die Lichter der Polizeikontrolle, den Kickdown. Am Mittwoch, 20 Uhr, haben sich etwa 25 Leute am Parkplatz an der Staustufe getroffen, die meisten Polizisten, dazu Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Nebenkläger, Zeugen, der Angeklagte.

Ein Sachverständiger hat markiert, wo die beiden Polizisten ihren Angaben nach damals gestanden sind.  Fotos: Christoph Urban

Ein Sachverständiger hat markiert, wo die beiden Polizisten ihren Angaben nach damals gestanden sind. Fotos: Christoph Urban

Der 52-Jährige - Glatze, Ohrring, Rockerclub-Jacke - sitzt seit Juli in Untersuchungshaft. Polizisten begleiten ihn, er trägt Fußfesseln. Freunde haben ihm Zigaretten mitgebracht. Weil seine Hände an einen breiten Gürtel gefesselt sind, muss er sich für jeden Zug bücken.

Ohne Straßenbeleuchtung ist es stockfinster an der Staustufe. Nur alle paar Jahre habe man so eine Tatort-Rekonstruktion, sagt Kommissariatsleiter Christian Rottbauer, durchaus selten, meint Kripo-Leiter Werner Sika.

Der Angeklagte geht in Fußfesseln hinterher

Der Streifenwagen steht wieder da, wo er am 1. Mai gestanden hat, leuchtet mit Abblendlicht quer über den Teer. Sechs Warnblinker auf der Fahrbahn wie damals bei der Kontrolle, die beiden Polizisten mitten auf der Straße, der vordere winkt mit Kelle und Taschenlampe, der hintere nur mit Taschenlampe. Ein Sachverständiger umkreist ihren linken Fuß mit gelber Sprühfarbe, es stinkt nach Lack. Sie treten zur Seite, zwei Platzhalter-Polizisten treten mit ihrem Fuß in den Kreis.

Jetzt will die Kammer sehen, von wie weit weg die Polizeikontrolle erkennbar wird. Ein Tross aus den Richtern, Staatsanwalt, Verteidiger, Nebenklägern, Polizisten geht auf der stockfinsteren Brücke bis über die Kuppe, etwa 500 Meter. Der Sachverständige fährt den schwarzen VW Passat, das Auto aus der Tatnacht, nebenher. Der Angeklagte in Halb-Meter-Schritten, wegen der Fußfesseln. Ein Polizist sagt, wegen der Bedrohungslage in der Stadt (siehe Artikel links) fehlen ein paar Streifenwagen.

"Jetzt wär's a Sach, wenn keiner mehr reinfahrt"

Der Passat richtet jenseits der Kuppe sein Abblendlicht zurück Richtung Polizeikontrolle. Richter Dr. Hammer: "Da kann sich jetzt jeder vorstellen, was man sieht." Stille. Staatsanwalt Dr. Schwabenbauer: "Was sind das rechts für Lichter?" Ein anderer Streifenwagen neben der Kontrolle stört. Richter, sich umdrehend: "Danke, Herr Schwabenbauer." Ein Polizist funkt vor, das Streifenwagenlicht geht aus. Der Polizist funkt nach: "Jetzt wär's a Sach, wenn keiner mehr reinfahrt." Hier, hinter der Kuppe, "noch ohne Aussagewert", sagt der Richter. Ein Mann von der Schwurgerichtskammer ins Diktiergerät: "Hier noch ohne Aussagewert."

Der Tross geht kuppenaufwärts, der Passat rollt nebenher, bleibt stehen. Der Angeklagte raucht eine, ein Polizist zündet an. Wegen der grellen Taschenlampen ist das rote Licht der Kelle noch nicht zu sehen, nur weißes Licht.

Aufregung, von hinten kommt ein Auto. "Werd a Fußballer vo Sossau sa", sagt jemand. Das Auto dreht um. 20.54 Uhr, der Tross überwindet die Kuppe. Ein Polizist steht den ganzen Abend mit Licht neben der Gerichtsprotokollantin im Tross, damit sie protokollieren kann. Richter: "Winken die überhaupt mit der Kelle?" Polizist funkt vor: "Ihr winkt's schon, oder?" Vorne steigt ein roter Punkt auf Kopfhöhe.

Eine ältere Frau mit Pudelmütze radelt vorbei

Weiter vor. Am Boden steht im Gelb des Sachverständigen: 400m. Der Verteidiger setzt sich ans Steuer des Passats, Sitzprobe, schaut. Weiter. 375m, der Richter setzt sich ans Steuer. Von hinten ein Lichtschein, "Achtung!" Das Auto biegt vorher ab. Ein anderes Auto will von unten her über den Feldweg auf die Westtangente schleichen, Polizisten schicken es weg. Einer schimpft.

275m, Schneuzen, etwas Kellenrot neben dem Taschenlampenweiß. In 25-Meter-Stopps weiter, bis 150m, eine ältere Frau mit Pudelmütze radelt vorbei. 140m, das rote Rücklicht der Radlerin tanzt neben dem Rot der Kelle. 75m, Richter: "Zwei Taschenlampen erkennbar, rotes Licht dahinter ..." er schaut, der Mann mit Diktiergerät beugt sich näher zu ihm. Richter: "Erkennbar." Sein Echo ins Gerät: "Erkennbar." 55m, man erkennt das taschenlampenbeschienene Hosenbein des vorderen Polizisten, ein, vielleicht zwei reflektierende Bauchbänder der Warnweste.

Die Zeugen vorne justieren die Taschenlampen ihrer Platzhalter, weisen ein. "Jetzt sind's aber zu viele Personen", sagt jemand im Tross. "Die weisen ein", ein anderer. Ein Polizist funkt vor: "Kannt's wieder auf d' Seit'n geh."

"Müssma zruck auf 55 Meter, hilft nix"

45m, die Fußfessel des Angeklagten klappert über den Teer, er reckt seinen Kopf nach vorne. Er wartet seit Mai auf die Verhandlung.

Verteidiger: "Da blendet was auf die Warnwesten hin." Jemand: "Ein Auto am Parkplatz." Ein anderer: "Das ist der Fahrer vom Landgericht." Stöhnen. Richter: "Müssma zruck auf 55, hilft nix." Kommissariatsleiter Rottbauer kommt von vorne entgegen, es ist 21.27 Uhr: "Alles klar bei eich?" Es hat zwei Grad Celsius. Vorne stehen die Zeugen am Straßenrand und warten, einige ihrer Angehörigen sind da.

Wieder 45m, ein Polizist funkt vor: "Könntest mit der Kelle winken?" Verteidiger: "Wenn sie denn gewunken haben." Funkt vor: "Aiso, wenn sie gewunken ham." Schreit vor: "Habt's ihr da gewunken?" Zurück: "Do nimma, nur no mit da Taschenlampe." Polizist: "Do ham's nimma g'wunken." Richter: "Denen fällt scho da Arm ab."

Richter: "Unnötige Dramatisierung vermeiden"

Der Tross kommt bei der Polizeikontrolle an. Die beiden Zeugen stehen im gelben Fußkreis, wo sie im Mai abgesprungen sind, die Scheinwerfer des Tatautos auf sie gerichtet. "War das der Abstand?", fragt der Richter. Der Verteidiger, Warnweste, Burberryschal, geht mit einem überdimensionierten Holzmeterstab hinter dem Rücken auf und ab.

21.43 Uhr, der erste Fahrversuch. Die Mimen nehmen wieder den Platz der Zeugen ein, die Richter sitzen im Passat. Die Platzhalter sollen neben den gelben Kreisen stehen. Richter: "Um unnötige Dramatisierung zu vermeiden." Der Passat fährt mit etwa 70 Stundenkilometern durch.

Seit eineinhalb Stunden stehen drei Polizeiautos mit Blaulicht auf der Kagerser Hauptstraße und lassen niemanden herauf, ein Polizeibus wacht nördlich des Hagens.

"Auf der Straße entscheid'ma nix"

Der vordere Zeuge bemerkt, dass sein Platzhalter eine hellere Taschenlampe hat als er in der Tatnacht. "Deutlich heller." Der Verteidiger lässt sich noch mal erklären, ob der Sachverständige nach Aktenlage aufgebaut hat. Sachverständiger: "Nach Aktenlage."

Die Taschenlampe wird ausgetauscht, der Tross geht zurück auf 75m, von da aus noch mal bis vor. 22 Uhr, rote Nasenspitzen. Der Angeklagte raucht eine Zigarette. Jetzt kommt der Passat mit 100 Stundenkilometern, bremst bei 30m, bäumt sich auf zum Kickdown irgendwo bei 15m. Der vordere Zeuge: So war's, nur die Bremse war heftiger und noch näher an den Polizisten.

Der Richter beendet den Ortstermin. Der Verteidiger beantragt, den Haftbefehl gegen den Angeklagten aufzuheben, weil die Zeugen widersprüchliche Angaben gemacht hätten. "Ich erwarte keine Entscheidung auf der Straße." Richter: "Nein, auf der Straße entscheid'ma nix." 22.35 Uhr, die Verhandlung wird unterbrochen. Fortsetzung ist am 7. Januar.

Mehr dazu unter

www.idowa.plus