Bayern

Linken-Chef Stefan Jagel schlägt Alarm: "Der Pflegermangel ist lebensbedrohlich"

Stefan Jagel, Linken-Chef und Koreferent des Gesundheitsreferates, spricht im AZ-Interview über die Situation in den Kliniken und Fehler im grün-roten Rathaus.


Stefan Jagel.

Stefan Jagel.

Von Christina Hertel

AZ-Interview mit Stefan Jagel: Er ist gelernter Krankenpfleger. Seit 2020 ist er Chef der Linken-Fraktion im Stadtrat und sitzt auch im Gesundheitsausschuss.

AZ: Herr Jagel, Sie waren selbst Pfleger. Können Sie verstehen, dass gerade so viel Personal in den städtischen Kliniken hinschmeißt?

STEFAN JAGEL: Ja, denn die Arbeitsbelastung ist enorm hoch. Das ist aber keine Sondersituation der städtischen Kliniken. Überall muss zu wenig Personal zu viele Patienten betreuen.

Zu welchen Situationen kommt es dadurch?

Die Kolleginnen und Kollegen tun alles, um den Personalmangel abzufedern. Sie machen einen tollen Job. Aber es ist eben total eng und zum Teil führt das zu einer gefährlichen Pflege.

Das Schwabinger Krankenhaus gehört zu den städtischen Kliniken.

Das Schwabinger Krankenhaus gehört zu den städtischen Kliniken.

Was heißt das konkret?

Es kommt zu lebensbedrohlichen Situationen. Wenn die Notaufnahme komplett überfüllt ist, muss man entscheiden, welcher Patient zuerst behandelt wird. Das kann hundertmal gut gehen und einmal geht's halt nicht gut.

Haben Sie das selbst erlebt?

Ja, das habe ich. Ich habe in einer Zeit angefangen, in der das Fallpauschalensystem eingeführt wurde. Seitdem gibt es für bestimmte Diagnosen einen festgelegten Betrag. Wir haben damals richtig zuschauen können, wie wir weniger wurden. Von 1995 bis 2007 wurden bundesweit insgesamt 92 000 Stellen in der Pflege abgebaut. Aus meinem Ausbildungskurs 2003 wurde niemand übernommen. Dadurch ist der Arbeitsdruck enorm und der Job immer unattraktiver geworden. Und jetzt haben wir den Salat. Seit fünf, sechs Jahren findet sich kein Personal mehr. Wir haben jetzt mit den Langzeitfolgen zu kämpfen.

Hat daran nur die Bundespolitik Schuld?

Natürlich ist es ein Kernproblem, dass öffentliche Krankenhäuser unterfinanziert sind. Zum großen Teil hat die München Klinik den Personalmangel aber auch selbst verursacht. Andere Kliniken hatten die Vision, der beste Arbeitgeber für Pflege auf dem Markt zu sein, und die haben es geschafft, Personal aufzubauen. Da ist Bezahlung auch nicht alles. Die Arbeitsbedingungen sind ein erheblicher Faktor. Und ich glaube, dass die München Klinik die Qualität der Ausbildung nicht bearbeitet hat.

Was meinen Sie damit?

Die Quote derer, die die Ausbildung abbricht, liegt bei 37 Prozent. In anderen Pflegeschulen liegt sie bei fünf bis sieben Prozent. Trotzdem hat die München Klinik nie überlegt, warum die Leute gehen oder wie man gegensteuern kann. Zum Beispiel ist die IT-Ausstattung an der Pflegeakademie unterirdisch. Es gibt keine Tablets, kein funktionierendes Wlan.

Es heißt immer: Das A und O bei der Personalakquise sind Wohnraum und Bezahlung.

Wohnraum ist ein Faktor. Aber die Bezahlung ist differenzierter zu sehen. Das Gehaltsniveau der München Klinik liegt sogar durch die Zulage der Stadt ein paar Hundert Euro höher als in anderen Kliniken in München. Es gibt eine betriebliche Altersvorsorge, die der Arbeitgeber übernimmt. Deshalb ist das Gehalt nicht nur der bestimmende Faktor, sondern die Arbeitsbedingungen. Gibt es familiengerechte Schichten? Ist der Druck zu hoch? Werde ich ständig aus dem Frei geholt? Die Work-Life-Balance hat einen viel größeren Stellenwert als vor 20, 30 Jahren. Dazu gehört, dass das Verhältnis zwischen Patient und Pfleger verbessert werden muss.

Der Chef der München Klinik hat angekündigt, Stationen zusammenzulegen. Er sagt: In ein paar Jahren gibt es gar nicht mehr genug Personal, um alle Stationen aufrecht zu erhalten.

Dies ist die falsche Frage, ob wir Stationen zusammenlegen. Die richtige Frage müsste lauten: Welches medizinische Angebot brauchen wir, damit die Menschen in dieser Stadt gut versorgt sind. Die Kinderabteilungen sind schon jetzt am Limit. Wir müssen überlegen, wie wir sie ausbauen. Und auch die Notaufnahmen sind an der Kapazitätsgrenze. Ein überwiegender Teil der Patienten, die ambulant in der Notaufnahme behandelt werden, kommt aus Stadtteilen, wo es zu wenig Hausärzte gibt - etwa im Münchner Norden.

Die Idee des Klinik-Chefs ist aber, dass Patienten künftig mehr ambulant betreut werden.

An der Stelle macht es sich die Geschäftsführung zu leicht. Natürlich entwickelt sich die Medizin weiter und es wird mehr ambulante Eingriffe geben. Aber über die Hälfte der Münchner Senioren lebt alleine. Nach einer OP können wir die Menschen doch nicht einfach heimschicken und es ihnen alleine überlassen, wie sie versorgt sind.

Welche Fehler haben Grüne und SPD gemacht?

Die Fehler wurden schon in der letzten Legislatur gemacht. Von der CSU wünsche ich mir deshalb weniger Rumpelstilzchen und mehr Sachlichkeit, denn sie trägt eine Mitverantwortung. Grüne und SPD haben leider in der Gesundheitspolitik keine Vision. Die Gesundheitsreferentin macht aber bei aller politischen Differenz aus meiner Perspektive einen sehr guten Job.

Was konkret hat das Rathaus versäumt?

Aus meiner Sicht wurde zu lange geschaut, dass die städtischen Kliniken endlich wieder schwarze Zahlen schreiben. Und man hat die Mitarbeitenden in vielen Punkten nicht ernst genommen. Meine zentrale Forderung ist, dass sie einem neuen Medizinkonzept viel stärker eingebunden werden. Sonst entsteht so eine hohe Unzufriedenheit, die nicht mehr einfangbar ist.

Alle 5.000 Mitarbeiter der München Klinik zu beteiligen, könnte schwierig werden.

Wir machen Bürgerbeteiligung mit ganzen Stadtvierteln mit 100 000 Bewohnern. Da werden wir ja einen Prozess mit den Mitarbeitern hinbekommen.