Wende 1989

So erlebte der Neufahrner Pfarrer die Wiedervereinigung in Berlin

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, strömten Tausende Berliner zu den Grenzübergängen. So auch der Jörg-Dietrich Gemkow, evangelischer Pfarrer in Neufahrn, der als 29-Jähriger die Wiedervereinigung erlebte.


Jörg Gemkow auf Westberliner Seite mit seinem Reisepass 1987. "Die Bedeutung dieses Bildes kann keiner nachvollziehen", sagt er.

Jörg Gemkow auf Westberliner Seite mit seinem Reisepass 1987. "Die Bedeutung dieses Bildes kann keiner nachvollziehen", sagt er.

Seit 1961 trennte die Mauer Ost- und Westberlin und sollte bis zur Wiedervereinigung das Symbol für das geteilte Deutschland bleiben. Am friedlichen Widerstand Ende 1989 nahm auch Jörg Gemkow teil. "Wir sind extrem hoffnungsvoll gewesen und haben von Freiheit geträumt", erinnert er sich. So nahm er auch an der größten Demonstration der Geschichte der DDR am 4. November in Berlin teil. Auf seinem Transparent stand geschrieben: "Kein Naturschutz für Politchamäleons". Ein Demonstrant hatte eine Banane anstatt des Schlagholzes an einen Dreschschlegel gehängt. "Das symbolisierte die Frage: Wo geht's denn hin, in welche Richtung?", erzählt der Zeitzeuge.Jörg-Dietrich Gemkow teil. "Wir sind extrem hoffnungsvoll gewesen und haben von Freiheit geträumt", erinnert er sich. So nahm er auch an der größten Demonstration der Geschichte der DDR am 4. November in Berlin teil. Auf seinem Transparent stand geschrieben: "Kein Naturschutz für Politchamäleons". Ein Demonstrant hatte eine Banane anstatt des Schlagholzes an einen Dreschschlegel gehängt. "Das symbolisierte die Frage: Wo geht's denn hin, in welche Richtung?", erzählt der Zeitzeuge.

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Der bekannte Checkpoint Charlie im März 1989.

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Weihnachten 1989: Ein Blick durch die Mauer von West- nach Ostberlin.

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1990 ging es am Grenzübergang Chauseestraße bereits ohne Probleme über die Grenze.

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Heute ist Gemkow evangelischer Pfarrer im niederbayerischen Neufahrn.

Als er am 9. November 1989 von einer Chorprobe in seine Wohnung am Prenzlauer Berg unweit der Bornholmer Straße zurückkehrte, sah er im Fernseher Bilder der Grenzöffnung. "Was ist das für ein Fernsehspiel?" habe er sich damals gedacht. Erst nach und nach dämmerte es ihm, dass das kein Fernsehfilm ist, sondern die Bilder gerade bei ihm um die Ecke passieren.

"Irgendwann machten sie auf und wir liefen rüber"

Gemeinsam mit seinem Obermieter lief er dann wie viele andere zum Grenzübergang Bornholmer Straße. "Die Grenzer waren unruhig und ängstlich, sie hatten aber nichts Aggressives. Irgendwann machten sie dann auf und wir liefen rüber", beschreibt er eines der bedeutenden Ereignisse der deutschen Gegenwartsgeschichte. Später ist er noch zu Freunden nach Wilmersdorf gefahren, wo sie in einer Kneipe die Entwicklung feierten.

Doch Gemkow war nicht nur froh: "Ich hatte mir gedacht, das wars mit dem Osten, das ist das Ende dieses Landes." Und die Wiedervereinigung sollte nicht nur Bananen für die DDR-Bürger bedeuten. Etliche haben ihre Arbeitsstelle verloren, das Geld wurde "umgerubelt", so wurde die Währungsreform genannt. "Die Leute wurden in ihrem Selbstbewusstsein gedrückt", fügt Gemkow hinzu. Und ergänzt: "Wir hätten ein Stück mehr Osten in unsere Kultur einfügen sollen."

Die Bürger der DDR wollten nicht die Wiedervereinigung um jeden Preis, sondern Veränderungen in ihrem Heimatland. Viele hätten den Traum eines anderen Deutschlands gehabt. Sie wollten Freiheit und besser leben. "Wir hatten die Hoffnung, dass sich in der DDR etwas verändert", berichtet Gemkow. Die Wiedervereinigung bedeutete das Ende eines bekannten und vertrauten Systems. Trotz aller Restriktionen und Zwänge war die DDR Heimat und Identität der ostdeutschen Bürger.

Hin und wieder hat Gemkow Ausreisegenehmigungen erhalten, um die Großmutter in der Schweiz zu besuchen. "Bei meinen Reisen habe ich auch die Kehrseite des westlichen Kapitalismus gesehen", meint er.

"Unsere Zukunft ist schwärzer als Kohle"

Auch wenn Gemkow der DDR durchaus ihre guten Seiten abgewinnen konnte, so hat er auch unter dem System gelitten. Gemkow war Schüler bei den Thomanern in Leipzig und sein Traum war es, Medizin zu studieren. Doch daraus wurde nichts. Als 1975 eine Japanreise des Chores anstand, äußerte sich der 15-Jährige in einer Brieffreundschaft kritisch über das DDR-System. "Unsere Zukunft im Sozialismus ist schwärzer als Kohle", schrieb er an ein japanisches Mädchen, nicht wissend, dass die Stasi alle Briefe kontrollierte. Damit war die Verweisung vom Gymnasium besiegelt. Bei der Japanreise durfte Gemkow nicht mitfahren, weil ihm staatsfeindliche Haltung vorgeworfen worden war. Über bestimmte Sachen habe man in der DDR nicht reden und schreiben dürfen, erinnert er sich. "Ich habe aber überall gesagt, was ich denke. Das war der größte Blödsinn", meint er heute.

Der Schulleiter, "vor 1945 ein NAPOLA-Schüler und nach '45 ein Erz-Stalinist", erzählte Gemkow nicht, worüber ihn die Stasi konspirativ informiert hatte und weshalb er die Schule verlassen musste. Die Antwort erhielt er erst als 50-Jähriger, als er seine Stasiunterlagen beim dafür zuständigen Bundesbeauftragten anforderte.

Antworten erst Jahrzehnte später

Von Seiten seines Elternhauses gab es wenig Unterstützung. Der Vater war Kreisarzt in Leipzig und Informeller Mitarbeiter der Stasi, das erfuhr Gemkow aber auch erst später. 1976 nahm er als 16-Jähriger das Musikstudium auf, eine von drei Möglichkeiten, die er nach dem Rausschmiss von der Schule hatte. Rückblickend beschreibt Gemkow die Zeit im Alter zwischen 16 und 40 Jahren als furchtbar. "Ich habe 25 Jahre meines Lebens verloren. Ich habe immer nach dem Warum gefragt. Warum musste ich mit 16 Schule und Chor verlassen?", sagt Gemkow heute. Er schreibt es dem Umgang des Regimes mit kritischen Meinungen zu, dass er Zeit seines Lebens auf der Suche war, nach sich selbst, nach seinem Platz in der Gesellschaft und nach seinem Glück. Die Erinnerungen an damals wühlen ihn noch heute auf.

Für das System nicht geeignet

Nach seinem Studium ging Gemkow als Sänger ans Theater - diese Zeit sei sehr heilsam gewesen. Trotzdem hat er die "Schiene, die Meinung zu sagen" weitergezogen. So störte ihn am Theater, dass der Spielplan nur in Absprache mit dem DDR-Kulturbeauftragten gestaltet werden durfte. Neue Theaterstücke fanden hier keinen Gefallen.

Gemkow verließ das Theater und studierte ab 1986 an einer kirchlichen Hochschule in Berlin Theologie. Hier begegneten sich Oppositionelle, wie Wolfgang Ullmann (späterer Mitgründer von Demokratie jetzt) oder Thomas Krüger (heute Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung). Gemkow wollte Pfarrer in der DDR werden. Im vereinten Deutschland Pfarrer zu sein, konnte er sich nach der Wende nicht vorstellen. Er unterbrach das Theologiestudium und erst nach einem Praktikum in einer Kreuzberger Gemeinde änderte sich sein Blick auf die Kirche: Jeder, vom Pfarrer bis zum Hausmeister war dort Gleicher unter Gleichen.

Heute gefunden, wonach er suchte

Nach seiner ersten Pfarrstelle auf dem Land trat er ab 2004 eine Pfarrstelle in Berlin an, begleitet von seiner jetzigen Frau Anja: "Das Größte und Schönste, was mir passieren konnte. Das war meine Rettung." Seitdem ist er nicht mehr auf der Suche, sondern bei sich angekommen. Mit seiner Frau, die 24 Jahre jünger ist, erlebte er viele Dinge, die er in seiner Jugend nicht erleben durfte. Partys gehörten dazu, aber auch die Teilnahme am Berlin-Marathon in den Jahren 2002 bis 2011.

Seine Haltung, Dinge kritisch zu hinterfragen hat sich Gemkow bis heute bewahrt. So bezeichnet er sich selbst nicht als den typischen evangelischen Pfarrer. Für ihn ist die Kirche ein Ort der Lebensbegleitung und Begegnung, auch mit anderen Religionen. Dass er heute in Bayern leben und arbeiten darf, empfindet er als Glück und wünscht sich seine bayerische Heimat als Vorbild für andere Bundesländer.

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