Nahost
Was bedeutet der Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah?
29. September 2024, 14:45 Uhr
Mehrere Gebäude südlich von Beirut fallen nach schweren Explosionen zu Trümmerbergen zusammen, als Israels Armee nach eigener Darstellung das Hauptquartier der Schiitenmiliz Hisbollah angreift. Ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah wird getötet. Nasrallahs Tod, den zunächst Israel und dann auch die Hisbollah bestätigt, gleicht einem Donnerschlag im Nahen Osten. Die wichtigsten Fragen:
Die schiitische Organisation ist durch den Tod ihres charismatischen Anführers, der als eigentlich mächtigster Mann im Libanon galt, gewissermaßen kopflos. Ohne Chef und nach Tötung fast der gesamten oberen Führungsebene ist unklar, wer innerhalb der Hisbollah nun die Kommandos geben könnte, auch bei weiteren Angriffen auf Israel. Vermutlich wird sie Anweisungen des Irans abwarten. Der ist die eigentliche Schutzmacht und wichtigster Unterstützer der Hisbollah. Auch wie der Iran reagiert, ist offen. Fest steht: Die Hisbollah ist nach massiven Angriffswellen Israels so geschwächt und gedemütigt wie seit Jahren nicht.
Das dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Die Hisbollah ernennt ihre Anführer zwar in meist geheimen und eher undurchsichtigen Verfahren. Schon jetzt ist aber ein Name für die Nachfolge im Umlauf: Haschim Safi al-Din, Chef des Hisbollah-Exekutivrats, gilt als aussichtsreichster Kandidat. Er ist ein Cousin Nasrallahs und Vater vom Schwiegersohn des mächtigen iranischen Generals Ghassem Soleimani, der 2020 im Irak durch einen US-Drohnenangriff getötet wurde. Safi al-Din soll schon seit den 1990er Jahren auf eine Führungsrolle innerhalb der Hisbollah vorbereitet worden sein. Laut arabischen Medienberichten war er zuletzt unter anderem für finanzielle Fragen und tägliche Abläufe innerhalb der Miliz zuständig.
Nasrallah war eine der wichtigsten Figuren in der sogenannten "Achse des Widerstands", in der der Iran mit Verbündeten in der Region gegen den erklärten Erzfeind Israel kämpft. Teilweise wurde er sogar als Nummer Zwei hinter Irans oberstem Führer Ali Chamenei betrachtet. Für seine Unterstützer hatte Nasrallah fast Gott-ähnlichen Status. "Nasrallahs Tod ist mehr als nur der Verlust eines Anführers, es ist der Verlust einer festigenden Kraft im Kern von Irans regionaler Strategie", schrieb das "New Lines Magazine" in einem Nachruf. Ohne ihn könne die "Achse" möglicherweise ganz zusammenbrechen.
Der Chefredakteur der libanesischen Zeitung "L'Orient Le Jour", Anthony Samrani, schrieb, die Tötung sei noch bedeutender als die von Top-General Soleimani 2020 und die von Osama bin Laden, Anführer des Terrornetzwerkes Al-Kaida und Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA.
"Er war unser Bin Laden mal 10. Mehr als 30 Jahre lang tötete er unsere Zivilisten, während er anderen Terrororganisationen zugleich half, besser darin zu werden, uns zu töten", schrieb Nadav Pollak, Dozent an der israelischen Reichman-Universität.
Es gibt unterschiedliche Szenarien. Die nun vorerst kopflose Organisation könnte beispielsweise trotz aller Rückschläge versuchen, besonders gewaltsam auf diesen Angriff zu antworten - auch um zu zeigen, dass sie überhaupt noch zu Attacken fähig ist. Das könnte etwa passieren in Form eines koordinierten Angriffs der Milizen im Irak und im Jemen oder erneut aus dem Iran selbst.
Sollte die Hisbollah sich nicht wie gefordert von der südlichen Grenze mit Israel zurückziehen, wäre auch eine begrenzte Bodenoffensive der israelischen Armee nicht ausgeschlossen, um den Druck auf die Miliz hochzuhalten. Solche Kämpfe könnten allerdings vorteilhaft für die Hisbollah verlaufen, die im Süden schon zuvor eine Art Guerilla-Krieg gegen Israel führte. Weil die Hisbollah und die Hamas im Gaza-Krieg deutlich geschwächt sind, könnten vor allem die Huthi im Jemen an Bedeutung gewinnen als Teherans Verbündeter.
In dem kleinen Land am Mittelmeer, das seit zwei Jahren ohne Präsident ist und faktisch ohne Regierung, entsteht durch Nasrallahs Tod ein Machtvakuum. Es gibt vorerst keine Anzeichen aus dem Iran, dass dieser als wichtigster Unterstützer der Hisbollah die Lücke schließen will. Möglich scheint deshalb auch ein neuer Machtkampf anderer Gruppierungen in dem konfessionell stark gespaltenen Land. Gegner der Hisbollah dürften jetzt eine einmalige Chance sehen, die Strukturen der Hisbollah innerhalb des Staats dauerhaft zu zerlegen und eine stärkere Kontrolle der Regierung wiederherzustellen. Es könnte aber auch zu einem größeren Zusammenbruch der Sicherheit im Land kommen, zu neuen konfessionellen Konflikten und insgesamt chaotischen Zuständen. Das Land erlebte von 1975 bis 1990 bereits einen blutigen Bürgerkrieg.
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