Leitartikel

Politik

Vor Gericht und auf hoher See


Berufen zu sein ist der innerste Kern eines Lebensschicksals. Ein Priester, den eine tiefe Krise in der Mitte seines Lebens ereilt, wird in der Rückerinnerung an seine Berufung am ehesten die Kraft finden, wieder seiner Gemeinde zu dienen. Ein Arzt,
der vor einer fast übermächtigen Aufgabe steht, kann im Wissen um seine Berufung Übermenschliches leisten. Und ein Lehrer, der als junger Mann seine Berufung zum Beruf gemacht hat, kann auch in schwierigen Klassen eine Autorität einbringen, die
er sich selber vorher gar nicht zugetraut hatte. Kein Buchstabe des Gesetzes, kein Gehaltsscheck, keine Beförderung hat mehr Kraft als diese Gabe, beizeiten die eigene Berufung erkannt zu haben und ihr gefolgt zu sein. Deshalb wird der Verrat der Berufung in der Regel auch streng geahndet. Ein Psychotherapeut, der seine Patientinnen regelmäßig verführt, weil sie ihm aufgrund der gemeinsamen Stunden vertrauensvoll zugeneigt sind, wird von den Kollegen geächtet. Ein Arzt, der mit mehreren Gläsern Wein im Blut eine Operation verkorkst, wird vor Gericht gestellt. Lehrer, die ihre Verantwortung für Minderjährige missbrauchen, werden sowohl aus dem Schuldienst entlassen als auch zusätzlich vom Rechtsstaat belangt.

Der Kern der Berufung eines Menschen ist allerdings nicht in einen Gesetzestext gegossen, sondern er ist eher im Berufsethos festgeschrieben. Es gibt Dinge, die man tut und Dinge, die man eben nicht tut, auch wenn das Gesetz es vielleicht gar nicht ahndet. Diese Ethik der Berufe und Berufungen ist seit der Antike ein wichtiges Gebiet der Philosophie. Entscheidend ist, dass die Ethik zwar eine Theorie moralischen Handelns ist, dass sie diese Theorie aber nicht um "des Wissens, sondern um des Handelns willen" liefert, wie es die Philosophin Annemarie Pieper in ihrem Standardwerk zur Ethik schreibt. Im Klartext: Menschen müssen also in ihren Berufen nicht über moralische Maßstäbe nachdenken, sondern sich vor allem an sie halten.

Beziehen wir jetzt eine solche Voraussetzung auf unsere Kultur, wie wir sie jeden Tag wieder neu vorfinden, dann merken wir, wie weit wir von einer solchen Welt entfernt stehen. Wie hoch ist doch die Dunkelziffer der Missbrauchsfälle von Schutzbefohlenen gerade bei denen, die sich ihr Vertrauen nur erschleichen. Bei Trainern in Jugendmannschaften, bei irregeleiteten Priestern, bei den falschen Heilern oder auch ganz einfach in Familien, wo Liebe und Verantwortung gegen Gewalt eingetauscht wurden.

Vor diesem Hintergrund ist ein Politiker, der sich im Vorraum der Kinderpornografie aufhält, obwohl ihm als Staatsmann der Schutz von Staat und Gesellschaft gerade anvertraut ist, doch kritisch zu sehen, auch wenn die Feuilletons der großen
Zeitungen vor einem Rückfall in einen unmenschlichen Konservatismus warnen. So schlimm für ihn selbst seine persönliche Situation auch sein mag, er hat als Politiker besondere Verantwortung. Und sein Verhalten unterscheidet sich im moralischen
Maßstab ganz grundlegend von dem eines zurückgetretenen Ministers, der in einem unbedachten Zuruf an den SPD-Kollegen Schaden vom Rechtsstaat und seiner politischen Kultur abwenden wollte, aber genau deshalb sich jetzt wegen
Geheimnisverrat vor exakt demselben Rechtsstaat wird verantworten müssen wie der Kollege.

Das Gesetz alleine kann also eine im Rechtsstaat entstandene Problemsituation, so wird schon an diesem Beispiel erkennbar, für unsere Alltagsintuition, wie die Philosophie das nennt, nicht zufriedenstellend auflösen. Um eine Situation ausreichend bewerten zu können, müssen wir sie einordnen können und dürfen sie nicht nur im Rahmen der Gesetzeslage bewerten. Wir brauchen den Rahmen unserer Alltagsintuition und auch die ethischen Voraussetzungen, um eine Situation adäquat beurteilen zu können. Auf diese Problematik hat schon der Revolutionsschriftsteller Georg Büchner vor 200 Jahren in seinem Drama "Dantons Tod" verwiesen, wo er die Eiseskälte des Gesetzesfanatikers Robespierre in ihrer Unmenschlichkeit entlarvt.

Dass der Buchstabe des Gesetzes alleine in einen Wahnsinn führen kann, hat gerade die Staatsanwaltschaft Hannover lehrbuchhaft vorgeführt. Für die juristische Verfolgung eines Bürgers, der zwar als Bundespräsident politisch-moralisch versagt hatte, aber sich ansonsten nichts hatte zuschulden kommen lassen, wurden Millionen von Steuergeldern ausgegeben und der Rechtsstaat ad absurdum geführt. Wäre man nur einen Schritt zurückgetreten und hätte das Gesamtbild der Causa
Wulff auch nur einen Augenblick mit klarem Verstand angeschaut, dann wäre dieser Prozess in dieser Form niemals geführt worden. Es würde schon auch für Staatsanwälte ein Berufsethos geben, das auch umfasst, dass man nicht in einer manischen Profilneurose die anvertraute Macht in solcher Weise missbrauchen darf, auch wenn es der Gesetzestext offensichtlich hergibt und zulässt. "Der Apparat, den der Staat aufbietet, Wahrheit und Gerechtigkeit vor Gericht zu garantieren", erscheine hier als "Monstrum", schrieb deshalb das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" letzte Woche und nahm ebenfalls den SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy vor einer Vorverurteilung der Staatsanwälte und der Medien in Schutz, weil auch für ihn die Unschuldsvermutung zu gelten habe. Wo aber eine Rechtskultur entsteht, die im Widerspruch zu unserer Alltagsintuition von Gerechtigkeit steht, nimmt am Ende genau der Rechtsstaat Schaden, dem das Recht anvertraut ist.

In wenigen Tagen steht Uli Hoeneß vor Gericht. Ein hochinteressanter Fall. Vor allem zahlreiche scharfzüngige Juristen wollen den ehemaligen Fußballstar hinter Gittern sehen: schon um des schönen Anblicks willen. Auf der anderen Seite aber stehen
Millionen von Spendengeldern, die der Bürger Uli Hoeneß gegeben hat. Das wiederum darf vor Gericht nicht zählen. Wie aber wird ein Gericht eine schlampige Selbstanzeige am Ende werten? Wie werden menschliche und juristische Sichtweisen
hier ineinandergreifen? Der Fall Hoeneß ist auf der Sachebene heute schon weitgehend klar: Er hat einen großen Blödsinn gemacht. Aber wie wird es vor Gericht ausgehen? Die Dramengeschichte der letzten 200 Jahre ist voll mit Menschen, die
auf dem Höhepunkt ihres Lebens zu Sturz kommen. Und der Zuschauer wartet gespannt auf das Ende des Stücks. Mitleid und Furcht soll er empfinden, damit er selber ein besserer Mensch wird, so will es Lessing.

Das Drama um Uli Hoeneß aber bebildert nicht ein menschenfreundlicher Dichter aus der Zeit der Aufklärung, sondern die voyeuristischen Boulevardmedien. Und die Luft zittert nicht vor Mitleid, sondern vor Neid und vor Missgunst. Und gerungen wird
am Ende nicht um Menschlichkeit oder um Mitmenschlichkeit. Gerade Gerichte stehen nicht wirklich für Menschenfreundlichkeit, das hat die Causa Wulff gezeigt. Also wollen wenigstens wir als Mitbürger dem Sportsfreund Uli Hoeneß die Daumen
halten!