Leitartikel

Politik

Lasst Uli Hoeneß leben!

Ein Plädoyer für den Mitmenschen Uli Hoeneß


Mit seiner Frau und dem Klatschreporter Michael Graeter von der Münchner "Abendzeitung" stand Ministerpräsident Horst Seehofer beim Bayerischen Staatsempfang im Januar vor einem Jahr neben mir. Er hatte gerade 2000 Gästen aus ganz Bayern die Hand geschüttelt, jetzt blickte er kurz in den riesigen Residenzsaal auf das sich vor ihm ausbreitende Gewimmel der Prominenten und Halbprominenten. Er hatte keine Lust mehr. Er war zwar der Gastgeber, aber er hatte beim Defilee gerade einer Unmenge Menschen die Hand geschüttelt; manche mochte er, manche waren ihm gleichgültig, manche kannte er gar nicht, aber begrüßt hatte er sie alle - was konnte man mehr von ihm erwarten. Und so sagte Ministerpräsident Horst Seehofer also zu seiner Frau Karin: "Ich geh jetzt zum Hoeneß." Und so verschwand er. Den ganzen Tag hatten die Radiosender gemeldet, dass Uli Hoeneß heute in illustrer Gesellschaft seinen 60. Geburtstag feiern wollte, und Horst Seehofer spürte, dass es für ihn dort wohl netter und zwangloser wäre als hier bei seiner eigenen Party; und so verließ er uns an diesem frühen Abend, mich, seine Frau, einen verdutzten Klatschreporter von der Münchner "Abendzeitung" und eben die anderen gut 2000 Gäste, die freilich längst mit sich, dem reichen Buffet, den guten fränkischen Weinen und auch sonst mit der ganzen Welt zufrieden waren.

Die Verlogenheit medialer Gerechtigkeitsfantasien

Als vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass Uli Hoeneß in der Schweiz ein lästiges Festgeldkonto nicht loswurde, war dem Ministerpräsidenten dieser Abend wohl entfallen. Auch dass er Uli Hoeneß sonst recht gern als einen respektablen Freund
seiner Seite wissen wollte. Denn im Fernsehen betonte der Ministerpräsident jetzt, dass er Ministerpräsident wäre und dass er es zu bleiben gedenke und dass bei einer so schweren Straftat wie der Steuerhinterziehung in solcher Höhe eben der
Rechtsstaat zuständig sei. Sonst kein Wort. Offensichtlich kannte Horst Seehofer Uli Hoeneß doch nicht, wenigstens konnte er sich jetzt nicht mehr an ihn erinnern.

Immerhin war die Kanzlerin Angela Merkel ein wenig emotionaler. Sie, die sich ebenfalls bei so mancher Veranstaltung gerne mit Uli Hoeneß gezeigt hatte, ließ einer interessierten Öffentlichkeit von ihrem Regierungssprecher persönlich ausrichten, dass sie jetzt persönlich enttäuscht sei von dem früheren Freund und Wegbegleiter. Das war alles, aber immerhin: ein Gefühl, das auch noch der Regierungssprecher persönlich mitteilte! Und ein erregter Bundestagsabgeordneter der CDU war bei der Bundestagsdebatte um Uli Hoeneß gleich noch emotionaler. hochrotem Kopf und zorniger Stimme rief er den Kollegen der SPD und der Zuschauerwelt an den Fernsehschirmen zuhause zu, dass Uli Hoeneß niemals Mitglied der CDU/CSU gewesen sei und man auch keine Parteispende von ihm genommen habe. Eine wahrlich christliche Partei!

Wenigstens die Medien waren gesprächsbereiter. Sie titelten mit originellen Schlagzeilen um die Wette, und Günter Jauch wechselte noch am Sonntagabend das Thema und die Gäste. Ein Riesenerfolg: Rekordzuschauerzahl; also am nächsten
Sonntag wieder. Was einmal geht, geht zweimal. Und wieder gab Jauch mit ernstem Gesicht den Moralischen: diesmal mit Thomas Gottschalk, der Steuern zahlt, aber eigentlich nicht will, Erwin Huber, der in Bayern vor gefühlten 2000 Jahren
Finanzminister war, dem unbestechlichen Heribert Prantl und natürlich Peer Steinbrück, der endlich aufräumen will, wenn er nur endlich aufräumen darf. Welch ein Aufatmen, wir sind uns einig: Gerechtigkeit kann es auf dieser Welt doch geben
wenn nur jeder seine Steuern zahlt. Bravo! Danke!

Der geniale Schriftsteller Georg Büchner hat vor 200 Jahren die Verlogenheit einer solchen Gerechtigkeitsfantasie in seinem Drama "Dantons Tod" herausgearbeitet. Peer Steinbrück heißt dort Robespierre. Und auf den Guillotinen in den Pariser Straßen lässt er die Reichen der vom Thron geschlagenen Monarchie um einen Kopf kürzer machen. Aber mittlerweile auch seine Freunde von früher, die Revolutionäre, die in seine gerechte Welt nicht mehr hineinpassen. Und so sitzt also Danton im Kerker und wartet mit den Freunden auf seine Hinrichtung. Büchner hat in diesem Drama die Welt in zwei Teile gespalten: auf der einen Seite der eiserne Moralist Robespierre.

Versteinert, aber gerecht. Unmenschlich, aber im Kampf für eine bessere Welt. Auf der anderen Seite Danton: ein Mensch, voller Lust zu leben. Ein Erotiker, ein Freund, aber handlungsunfähig, weil er nicht mehr weiß, wie die Welt von morgen aussehen soll. Und dieser Danton, dem die Sympathien des Publikums gehören, schleudert auf dem Höhepunkt des Dramas dem unmenschlichen Robespierre entgegen: "Mit deiner Tugend Robespierre! Du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bei keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken.Robespierre du bist empörend rechtschaffen." Das ist der Skandal des Moralischen. Das Richtige ist noch lange nicht die Antwort auf die Not des Menschen. Wer den selbstherrlichen Peer Steinbrück bei Günter Jauch sitzen sieht, der wünscht ihm, dass er besser Steuern hinterzogen hätte und dafür lebensfreundlich wäre! Danton würde ihm zurufen: "Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält; Jeder putzt sich, wie er kann, und geht auf seine eigne Art auf seinen Spaß dabei aus."

So sitzen sie also da und erzählen, dass die Großmutter von so kleiner Rente lebt, weil Uli Hoeneß in der Schweiz ein paar Millionen Spielgeld hat. Dass jeder Taschendieb bestraft wird, aber Uli Hoeneß nicht. Für kein billiges Bild sind sie sich zu schade. Dass Hoeneß ein Vielfaches seiner Steuerschuld gespendet hat, bleibt ungesagt. Dass ein Fußballmanager, der für einen Spieler 37 Millionen Euro auf den Tisch legt, das Maß verlieren muss. Dass Uli Hoeneß für die Kranken und Schwachen,
für die Kinder und die Alten wirklich ein Herz hatte und hat, das zählt nicht mehr, wenn die Robespierres dieser Welt sich ereifern. Das wiegt es nicht auf, heißt es dann; er darf sich nicht über den Staat stellen, heißt es dann, er ist nicht über dem
Gesetz - und all die anderen Sätze, die so richtig sind und doch so falsch. Denn natürlich wiegt es das auf! Nicht vor dem Gesetz, aber vor dem Prinzip Liebe. Denn das Gesetz heilt nicht. Das Gesetz stillt keinen Hunger. Das Gesetz ist nicht der
mitleidvolle Blick auf den Nächsten, der leidet, hungrig ist oder traurig. Das Gesetz steht nicht für eine bessere Welt. Die Gerechtigkeit des Gesetzes ist eine kalte Gerechtigkeit. Wenn alle ihre Steuern bezahlen, ist die Welt kein bisschen heller geworden. Und wärmer auch nicht. Das Gesetz bleibt kalt; und wer nur das Gesetz kennt, der bleibt ein kalter Fisch. Wer den Scharfrichter der Gerechtigkeit, den sogenannten Enthüllungsjournalisten Leyendecker, in seinem Garten beim Fernsehinterview sitzen sieht, wo die Idylle waltet und der Springbrunnen plätschert, wo er sich eingerichtet hat in der behaglichen Biederkeit des Saubermanns, der muss wissen, dass von dort kein Impuls für eine bessere Welt ausgeht. Uli Hoeneß
war immer anders. Jedes Vortragshonorar wurde gespendet, Stiftungen unterstützt, Vereinen, die nicht mehr weiter konnten, unter die Arme gegriffen. Uli Hoeneß war Unternehmer. Kreativ, nicht nur, was die Millionen in der Schweiz angeht. Fleißig und
erfolgreich. Ein Unikat. Wer so viel hobelt, der wird auch Fehler machen. Im Umgangston mit Anderen, jetzt in der Leichtfertigkeit der Schweizer Steuersache, sonst auch andere Fehler. Aber das Licht überwiegt bei Weitem den Schatten.

Die Affäre um Uli Hoeneß spiegelt die Kälte der deutschen Gesellschaft scharf wieder. Wo es ums Geld geht, da gibt es heute kein Pardon. Das Geld spielt die entscheidende Rolle in unserer Welt. Da hört die Freundschaft auf und die Gerichte haben Konjunktur. Vor Gericht spielt gerade die alltägliche Gewalt längst eine geringere Rolle als die Delikte, bei denen es ums Geld geht. Da gibt es drakonische Härte. Wer den Anderen heute auf der Straße zusammenschlägt, nachts mit ein paar Bier, der muss wenig fürchten. Erst, wo die Kasse nicht stimmt, da zuckt der Staatsanwalt und der Richter wird ernst. Es ist eine ungeheure gesellschaftliche Fehlsteuerung, die sich mit dem Fall Uli Hoeneß noch weiter zuspitzt. Eine kollektive Gerechtigkeitspsychose, die in den Talkshows jetzt ihre kranke Fratze zeigen darf.

Die Liebe als Gegensatz zur Kälte des Gesetzes

Zum Schluss: Das Gerechtigkeitsbild, das von den Robespierres dieser Welt, von den Prantls und Leyendeckers, von den Steinbrücks und den Staatsanwälten entworfen wird, ist diametral entgegengesetzt zu dem Bild der Liebe und der Gerechtigkeit, wie es das Christentum zeigt. Jesus ging nicht nur zu den gefallenen Frauen, zu den Dirnen und den Sünderinnen, sondern gerade auch zu den untreuen Verwaltern; oder zu den Zöllnern, die abseits standen. Hier fand er fruchtbaren Boden, um seine
neue Lehre von der Mitmenschlichkeit zu bringen. Von Steuergerechtigkeit hat Jesus nicht gesprochen, sondern davon, dass wir mit unseren Talenten reiche Frucht erzeugen sollen. Für die anderen Menschen. Und das hat Hoeneß stärker getan als viele von uns, vor allem als die, die jetzt nach Moral und nach dem Staatsanwalt rufen!

In der Welt des Neuen Testamentes wird das Gesetz gerade außer Kraft gesetzt. Die Pharisäer sind es, die von Jesus belehrt werden, dass es eine Welt jenseits des Gesetzes gibt. Und hier gelte es, zu heilen und zu helfen und über sich hinauszuwachsen. Es war der Apostel Paulus, der die Tücke des Gesetzes erkannte. Der eben spürte, dass eine Welt der Gesetze keine Welt der Liebe ist. Hätte ich das Gesetz nicht gekannt, ich hätte nicht dagegen verstoßen, weiß er. "Aufgrund von
Gesetzeswerken wird kein Mensch gerecht, vielmehr lernt man erst durch das Gesetz die Sünde kennen" (Röm 3,20), schreibt er. Paulus nimmt vor 2000 Jahren Sigmund Freud vorweg, wenn er zugibt, dass der Mensch immer zerrissen bleibt, dass er nie nur gut und nie nur böse ist, dass aber das Gesetz diesen Mangel gerade nicht heilt. So schreibt er, als wäre er ein Diagnostiker unserer Zeit: "Ich tue nämlich nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das
tue, was ich nicht will, dann handle nicht ich, dann handelt vielmehr die in mir wohnende Sünde. (...) Dem innern Menschen nach habe ich zwar Freude am Gesetz. Doch finde ich ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines
Denkens widerstreitet und mich in dem in mir waltenden Gesetz der Sünde gefangenhält." (Röm 7, 19-24)

Einen solchen Satz kann man im Fall von Uli Hoeneß durchaus auch heute anwenden. Uli Hoeneß war nie heilig, er war immer, wie viele von uns, gut, aber auch arrogant. Hilfreich für die Armen, aber auch ehrgeizig. Ernst, aber auch ein Spieler. Oft leise, aber auch manchmal viel zu laut. Nicht ein härteres Gesetz, auch nicht ein neues Gesetz kann diesen begabten Menschen noch weiterbringen und besser machen, so weiß es Paulus, sondern allein die Kraft der Liebe; und die darf gerade jetzt auch Uli Hoeneß nicht vorenthalten werden. Gegen den moralischen Rigorismus der Gesetzeswelt stellt Paulus die tragenden Säulen einer wahrhaft mitmenschlichen Welt, wenn er schreibt: "Nun bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: am größten unter ihnen aber ist die Liebe." (1 Kor 13,13). Das ist der Gegensatz zur gefühllosen Sprache der Seehofers und Steinbrücks, die ihren vormaligen Spielkameraden jetzt im kalten Regen des Rechtsstaats stehen lassen wollen.

Vor dem Hintergrund der Sprache der Liebe hat Uli Hoeneß weit weniger versagt, als uns heute von so vielen medial ins Ohr geflüstert wird. Das gehört zum Bild dieser Affäre, wie wir es uns fairerweise machen sollten. Was im Fall von Uli Hoeneß also
nottut, ist, das Bild zu erweitern, den Blick zu öffnen. Für das, was ein Mensch ist, vor allem aber auch für das, was Uli Hoeneß über viele, viele Jahre an Gutem getan hat. Zum Schluss aber auch für das, was eine Gesellschaft an Bösartigkeit in sich
trägt und über einen ergießt, wenn er sich - wenigstens zurzeit - nicht wehren kann.