Tote und Verletzte
Todesfahrt von Magdeburg: Tatverdächtiger muss in U-Haft
20. Dezember 2024, 23:05 Uhr
Nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt mit mindestens fünf Toten kommen mehr Details rund um die erschütternde Tat ans Licht. Das Motiv des mutmaßlichen Täters könnte Unzufriedenheit mit dem Umgang von Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland gewesen sein, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens in Magdeburg.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Verdächtigen nun wegen fünffachen Mordes. Der Tatvorwurf laute darüber hinaus versuchter Mord in 200 Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, so Nopens. Der Tatverdächtige habe sich bereits zur Tat geäußert. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg beantragte einen Haftbefehl gegen den 50-Jährigen. Er müsse in Untersuchungshaft, teilte die Polizei am frühen Sonntagmorgen mit.
Das Auto war am Freitagabend auf einem Weihnachtsmarkt mit hoher Geschwindigkeit in eine Menschenmenge gerast. Nach Behördenangaben wurden vier Erwachsene und ein neunjähriges Kind getötet. Es gebe insgesamt 205 Opfer, darunter 5 Tote. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach von einem "menschenverachtenden Anschlag". Nach Informationen der Stadt wurden die Opfer in 15 Kliniken gebracht, auch nach Brandenburg.
Was könnte das Tatmotiv sein?
Der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens hatte am Samstag gesagt, das Motiv des mutmaßlichen Täters könnte Unzufriedenheit über den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland gewesen sein. In sozialen Netzwerken präsentierte sich der Festgenommene als vehementer Kritiker des Islams und des repressiven Machtapparats in Saudi-Arabien. Zugleich setzte er sich für die Belange vor allem von Frauen aus seinem erzkonservativ geprägten Heimatland ein. In sozialen Medien und Interviews erhob er zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden und hielt ihnen unter anderem vor, nicht genug gegen Islamismus zu unternehmen.
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur sagt der Tatverdächtige über sich selbst, er sei früher Muslim gewesen, habe sich inzwischen aber vom Glauben abgewandt. Im Februar 2016 stellte er einen Asylantrag, der im Juli desselben Jahres positiv beschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt damals Asyl als politisch Verfolgter.
Erst vor rund zehn Tagen veröffentlichte die amerikanische Plattform "RAIR", die sich selbst als antimuslimische Graswurzel-Organisation beschreibt, ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit dem Arzt. Darin warf er der deutschen Polizei vor, das Leben saudischer Asylsuchender, die sich vom Islam losgesagt hätten, gezielt zu zerstören. Zudem präsentierte er sich als Fan von X-Inhaber Elon Musk, der inzwischen Positionen der amerikanischen Rechten vertritt, und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge. Gleichzeitig bezeichnete er sich aber politisch als links.
BKA: Kein Hinweis auf islamistisch motivierten Anschlag
BKA-Chef Holger Münch sagte im ZDF-"heute journal", es gebe - anders als bei ähnlichen Taten in der Vergangenheit - keinen Hinweis auf einen islamistisch motivierten Anschlag. Auch der Generalbundesanwalt sage noch nicht eindeutig, wie der Sachverhalt einzuordnen sei. Der Tatverdächtige habe eine islamfeindliche Einstellung, er habe sich auch mit rechtsextremen Plattformen beschäftigt, sagte der Chef des Bundeskriminalamts. Es sei aber noch nicht abschließend möglich zu sagen, dass die Tat politisch motiviert gewesen sei.
Diskutiert wird nun wie häufig in solchen Fällen die Frage, ob die Sicherheitsbehörden nicht früher hätten handeln können oder müssen. Der Terrorismusexperte Peter Neumann sagte im ZDF, der Tatverdächtige habe nicht in ein bestimmtes Raster gepasst. "Er war eben kein typischer Islamist. Er war ein Saudi, der sich gegen den Islam gewendet hat. Das passt für Behörden nicht so richtig in die gängigen Schema rein." Zudem habe man heute eine Flut von Informationen von Tausenden von Leuten, die im Internet ähnliche Botschaften sendeten. "Und es ist ganz, ganz schwierig zu unterscheiden: Wer meint es ernst, und wer ist nur auf dem Internet und macht Sprüche?"
Stadt verteidigt Sicherheitskonzept
Der mutmaßliche Täter soll mit seinem Wagen über einen Flucht- und Rettungsweg auf den Weihnachtsmarkt gelangt sein, berichtete Tom-Oliver Langhans, der Direktor der Polizeiinspektion Magdeburg. Die Fahrt habe nur rund drei Minuten bis zur Festnahme gedauert.
Der Rettungsweg war nach Angaben der Stadt nicht durch Sperren oder Poller geschützt. Notarzt und Feuerwehr sollten über diesen Weg bei Unfällen oder anderen Einsätzen auf dem Platz gelangen können, erklärte Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt. Dort seien aber mobile Einsatzkräfte stationiert gewesen. Das Konzept habe sich "über lange Jahre bewährt".
Man habe es mit einem Fall zu tun, mit dem kein Veranstalter habe rechnen könne, sagte Krug. Das Sicherheitskonzept für den Markt sei zuletzt im November dieses Jahres verschärft worden, es sei "nach bestem Wissen und Gewissen" erstellt worden.
Die AfD-Landtagsfraktion forderte eine Sondersitzung des Innenausschusses - auch zur Aufklärung möglicher Verfehlungen oder Versäumnisse.
Verdächtiger erhielt Asyl
Bei dem noch am Abend festgenommenen Verdächtigen handelt es sich um Taleb A., einen Arzt aus Bernburg, der aus Saudi-Arabien stammt. Der Mann ist islamkritischer Aktivist. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bezeichnet sich der 50-Jährige, der seit 2006 in Deutschland lebt, selbst als Ex-Muslim. Demnach stellte er im Februar 2016 einen Asylantrag, über den im Juli desselben Jahres entschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt damals Asyl als politisch Verfolgter.
In sozialen Medien und Interviews erhob Taleb A. zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden. Er hielt ihnen unter anderem vor, nicht genügend gegen Islamismus zu unternehmen. Wie eine Sprecherin des Gesundheitsunternehmens Salus auf Anfrage mitteilte, war der 50-Jährige als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug in Bernburg tätig. Er habe mit suchtkranken Straftätern gearbeitet und sei seit März 2020 in der Einrichtung tätig gewesen.
Der Mann war am Tatort nach der Fahrt von Einsatzkräften gestellt und festgenommen worden. Nach derzeitigem Ermittlungsstand könne ein zweiter Täter ausgeschlossen werden, sagte ein Polizeisprecher in Magdeburg.
Warnung aus Saudi-Arabien
Saudi-Arabien hatte Deutschland vor Taleb A. gewarnt, hieß es aus saudischen Sicherheitskreisen. Das Königreich habe seine Auslieferung beantragt, darauf habe Deutschland nicht reagiert. Der Mann stammt demnach aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens. Er sei Schiit gewesen. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung in dem mehrheitlich sunnitischen Land sind schiitisch. Es gibt immer wieder Berichte über Diskriminierungen gegenüber Schiiten im Land. Saudi-Arabien verurteilte die tödliche Attacke in einer Mitteilung auf X - in der Stellungnahme erwähnte das Land den Verdächtigen nicht.
Berliner Justiz kannte Taleb A.
Nach dpa-Informationen lag gegen Taleb A. zudem ein Verfahren der Amtsanwaltschaft Berlin wegen des Missbrauchs von Notrufen durch Taleb A. vor. Zuerst hatte der "Spiegel" berichtet. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Februar im Dienstgebäude der Berliner Polizei den Notruf der Feuerwehr gewählt zu haben, ohne dass ein Notfall vorgelegen habe. Daher wurde beim Amtsgericht Tiergarten Strafbefehl beantragt, der mit 20 Tagessätzen zu je 30 Euro erlassen wurde.
Der Angeklagte habe Einspruch eingelegt. Zum Hauptverhandlungstermin am vergangenen Donnerstag (19. Dezember) sei der Angeklagte nicht erschienen, so die Berliner Staatsanwaltschaft. Der Einspruch sei auf Antrag der Amtsanwaltschaft verworfen worden.
Scholz verspricht Aufklärung
Nach Angaben von Haseloff raste der Mann bei dem Anschlag mit einem Leihwagen in die Menschenmenge. Die "Bild" schrieb unter Berufung auf die Polizei, dass sich die Fahrt auf dem Gelände über 400 Meter erstreckt habe. Es würden Durchsuchungen durchgeführt, sagte eine Sprecherin.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach bei einem Besuch vor Ort von einer "furchtbaren, wahnsinnigen Tat". Es gebe keinen friedlicheren und fröhlicheren Ort als einen Weihnachtsmarkt. Jetzt sei wichtig, dass man aufkläre, mit aller Präzision und Genauigkeit, sagte Scholz. "Es darf nichts ununtersucht bleiben - und so wird es auch sein." Man müsse den Täter, seine Handlungen und Motive genau verstehen und darauf mit den strafrechtlichen Konsequenzen reagieren.
Haseloff will Opfern helfen
Ministerpräsident Haseloff will den Opfern und Angehörigen der Todesfahrt unter die Arme greifen. Sein Kabinett habe Festlegungen getroffen über "finanzielle und organisatorische Ressourcen", sagte Haseloff. Mit dem Kanzler habe man darüber geredet, wie die Hilfe und Unterstützung des Bundes aussehen werde.
Die Stadt Magdeburg und Wohlfahrtsverbände richteten Spendenkonten für die Opfer und Betroffenen ein. Es gehe darum, den Betroffenen möglichst schnell Unterstützung zu ermöglichen, erklärte die Stadt. Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Pascal Kober, kümmert sich nach der Todesfahrt um die Betreuung der Betroffenen. Bei Bedarf werde psychosoziale und praktische Hilfe vermittelt, teilte das Bundesjustizministerium mit.
Naben Scholz und Haseloff machten sich auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Bundesjustizminister Volker Wissing, Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) und Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) am Vormittag ein Bild vom Tatort. Am Abend sollte es im Dom eine Gedenkfeier geben. Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt ordnete bis Montag Trauerbeflaggung an allen Dienstgebäuden des Landes an. Bundesinnenministerin Faeser ordnete bundesweit Trauerbeflaggung an den obersten Bundesbehörden an.
Video soll Festnahme des Verdächtigen zeigen
Ein Handyvideo soll die Festnahme des Verdächtigen zeigen. In dem Clip ist zu sehen, wie ein Polizist seine Waffe auf den Verdächtigen richtet und ihm zuruft, sich hinzulegen: "Die Hände auf den Rücken!" und "Bleib liegen!" Der Mann legt sich neben einem schwarzen - sichtbar beschädigten - Auto auf den Boden und befolgt die Anweisungen. Schließlich kommt Verstärkung, mehrere Polizisten springen aus dem Einsatzwagen und umkreisen den liegenden Verdächtigen.
Rund acht Jahre nach Berliner Weihnachtsmarktanschlag
Fast auf den Tag genau vor acht Jahren, am 19. Dezember 2016, war in Berlin ein islamistischer Terrorist mit einem entführten Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast. Dabei wurden zwölf Menschen getötet, das 13. Opfer starb 2021 an den Folgen. Mehr als 70 Menschen wurden verletzt. Der Attentäter floh nach Italien, wo er von der Polizei erschossen wurde. Die Berliner Polizei will nun ihre Präsenz auf den Berliner Weihnachtsmärkten erhöhen.