Gaza-Krieg

Staatsfeind wird Hamas-Chef - was bedeutet das für Israel?


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Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar soll sich im weit verzweigten Tunnelnetz unter dem Gazastreifen aufhalten. (Archivbild)

Von dpa

Die islamistische Terrororganisation Hamas hat den bisherigen Gaza-Chef Jihia al-Sinwar überraschend zum Anführer der gesamten palästinensischen Gruppierung ernannt. Bislang war die Führung der Hamas auf einen Chef für den Gazastreifen und einen außerhalb des Küstengebiets aufgeteilt. Nach der Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija übernimmt Sinwar auch dessen Rolle. Welche Auswirkungen hat dieser Schritt auf Israel und die Lage der Bevölkerung im Gazastreifen?

Mit Sinwars Wahl verlegt sich der Schwerpunkt der Macht innerhalb der Hamas eindeutig in den Gazastreifen. Anders als sein Vorgänger Hanija, der als Vorsitzender des Politbüros ein Luxusleben in Katar führte, hält sich Sinwar seit dem von ihm befehligten Massaker der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober vergangenen Jahres versteckt. Er wird irgendwo im weit verzweigten Tunnelnetzwerk unter dem blockierten Küstenstreifen vermutet.

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Sinwar (r) übernimmt nun auch die Agenden des getöteten Vorsitzenden des Hamas-Politbüros, Ismail Hanija (l). (Archivbild)

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Sinwar zeigte sich bei den Verhandlungen zur Freilassung israelischer Geiseln bislang weitgehend unnachgiebig. (Archivbild)

Sinwar agiert als einsamer Wolf, umso mehr, seit Israel praktisch die gesamte Führungsriege der Hamas um ihn herum gezielt getötet hat. Er steht ganz oben auf der Abschussliste der Regierung in Jerusalem: Direkt nach dem Hamas-Massaker hatte Israel ihn bereits als "lebenden Toten" (dead man walking) bezeichnet. Dass er bisher allen Tötungsversuchen entkommen konnte, trägt zur Legendenbildung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung bei.

Seine Wahl zum übergreifenden Hamas-Chef verwandele die Hamas in eine "Ein-Mann-Bewegung mit einer einzigen Vision", schrieb der israelische Politikexperte Avi Issacharoff in der Zeitung "Jediot Achronot". Für Sinwar wäre es trotz der verheerenden Zerstörungen im Gazastreifen schon ein Sieg, den Krieg zu überleben und den Verbleib der Hamas an der Macht zu sichern.

Der wegen seiner Morde an angeblichen palästinensischen Kollaborateuren mit Israel als "Schlächter von Chan Junis" bekannte Sinwar gilt als ideologischer Fanatiker, aber gewiefter Stratege. Wohl mehr als jeder andere Hamas-Führer steht er Israels Erzfeind Iran nahe. Während Hanija noch als Realpolitiker mit gewissen pragmatischen Erwägungen galt, geht der 1962 geborene Sinwar kompromisslos vor.

"Jetzt gibt es niemanden mehr, der es wagen würde, dem allmächtigen Anführer zu widersprechen, der sich als Retter und möglicherweise palästinensischer Messias sieht", schrieb Issacharoff. "In vieler Hinsicht geht die Hamas mit der Entscheidung, einen solchen Extremisten zu ernennen, in eine noch radikalere Richtung als bisher."

Sinwar habe mit seinem Vorgehen seit dem 7. Oktober bewiesen, "dass er ein gefährlicher Mann mit radikalsten Ansichten" sei. "Er hat die Hamas in den bisher brutalsten und schmerzhaftesten Gaza-Krieg geführt und es war ihm absolut bewusst, dass er Tausende von Palästinensern auf dem Altar seiner Vision opfern würde."

Für den israelischen Experten Avi Melamed könnte die Ernennung von Sinwar zum Gesamtchef den Bestrebungen der Hamas schaden, den gegenwärtigen Krieg mit Israel als Organisation zu überleben. Außerdem könne es die Legitimität der Hamas auf der internationalen Bühne noch weiter verringern, meint Melamed. Denn mit der Wahl Sinwars stelle sich die Hamas letztlich klar hinter dessen Strategie des bewaffneten Widerstands und die Verbrechen des 7. Oktobers.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag beantragte im Mai Haftbefehl auch gegen Sinwar. Er warf ihm - und den mittlerweile getöteten Hamas-Führern Hanija und Mohammed Deif - unter anderem "Ausrottung" sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Die Ernennung Sinwars dürfte auch Bemühungen um eine Einigung der rivalisierenden Palästinenserorganisationen Hamas und Fatah erschweren, deren Ziel es ist, mit einer gemeinsamen Einheitsregierung nach dem Krieg auch im Gazastreifen zu herrschen. Dies wiederum spielt der rechtsreligiösen Regierung in Israel in die Hände, die solche Versuche ohnehin mit aller Macht zu torpedieren sucht, weil sie einen unabhängigen Palästinenserstaat strikt ablehnt.

Wie sich die Bündelung der ganzen Macht in Sinwars Händen auf die Bemühungen um eine Waffenruhe im Gaza-Krieg auswirken wird, ist noch ungewiss. Auch vor der Tötung Hanijas galt Sinwar als "letzte Instanz" mit Blick auf die Positionen der Hamas bei den indirekten Verhandlungen mit Israel, an denen Katar, Ägypten und die USA beteiligt sind.

Seit Beginn der Verhandlungen über einen Austausch von mehr als hundert Geiseln in der Gewalt der Hamas im Gegenzug für palästinensische Häftlinge zeigte Sinwar sich unerbittlich und rückte kaum von seinen Standpunkten ab. Doch auch dem rechtskonservativen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wird inzwischen vorgeworfen, er torpediere die Gespräche aus persönlichen und innenpolitischen Erwägungen. Insofern könnte ihm die Ernennung Sinwars dabei helfen, Unterstützung für seine Forderung nach einem "totalen Sieg" über die Hamas zu sichern.

US-Außenminister Antony Blinken sagte, es hänge nun maßgeblich von Sinwar ab, ob ein Abkommen über eine Waffenruhe in Gaza gelingt. Er sei schon vor seiner Ernennung der wesentliche Entscheider gewesen. "Das unterstreicht nur die Tatsache, dass es wirklich an ihm liegt, zu entscheiden, ob eine Waffenruhe vorangetrieben wird."


Dieser Artikel ist Teil eines automatisierten Angebots der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Er wird von der idowa-Redaktion nicht bearbeitet oder geprüft.