Wut wächst
Proteste in Israel: Ein Familienfoto voller Schmerz
14. März 2024, 18:06 Uhr
Ihr Protestschild ist ein Foto, wie es in jedem Familienalbum kleben könnte: Links der junge Vater, der das Selfie wohl im letzten Jahr gemacht hat. Rechts neben ihm seine Frau, die wie er übers ganze Gesicht strahlt. Sie hält ihre wohl fünfjährigen Zwillingstöchter im Arm. Die Mädchen tragen weiße Sommerkleidchen. Eines davon hat die Zunge belustigt über den Mundwinkel gestreckt. Der kleine Bruder will seinen orangen Ball mit im Bild haben. Gadi Kedem steht inmitten einer Gruppe von Demonstranten in Tel Aviv und hält das Bild stumm über die rote Baseballkappe. Eine Aufschrift, einen Protest-Slogan, braucht das Schild für ihn und seine Frau Reuma nicht. "Das ist meine Tochter Tamar, ihr Mann Yonatan und meine Enkel Arbel, Shachar und Omer. Sie wurden alle ermordet." Als die Hamas am Morgen des 7. Oktober den Kibbuz Nir Oz angriff, hatte sich die Familie in ihren Schutzraum verschanzt. "Sie sind hier, sie verbrennen uns. Wir ersticken", schrieb Yonatan Siman Tov als letzte Textnachricht an seine Schwester. "Wir sind hier, weil wir nicht wollen, dass nun auch noch ihre Freunde in Gefangenschaft sterben", sagt Gadi Kedem. "Deswegen sind wir hier." An diesem Abend im März weht der kühle Frühlingswind die blau-weißen Fahnen der anderen Demonstranten über das Bild. Die meisten Israelis kennen die Geschichte der Kedem-Siman Tovs. Das ausgelöschte Glück der jungen Familie wurde zum Symbolbild für den unheilbaren Schmerz der überfallenen Kibbuzim - und vielleicht des ganzen Landes. Hier und jetzt auf der Tel Aviver Kaplanstraße, wo lange vor dem 7. Oktober Zehntausende gegen die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu demonstriert hatten, ist es jedoch nicht nur ein Bild der Trauer. Es ist ein Bild der Anklage. "Wir wissen, wer dafür verantwortlich ist", sagt Gadi Kedem. "Die Regierung hat weder ein Herz noch Verstand. Ihr fehlt jegliche Seele." Wie Gadi und Reuma Kedem demonstrierten in den letzten Tagen Tausende in Israel. Während immer mehr Menschen auf die Tel Aviver Kaplanstraße strömen, erreicht ein Protestzug den Pariser Platz in Jerusalem, wo seit Wochen Demonstrationen gegen Netanjahu in der Nähe seines Amtssitzes stattfinden. Der Marsch war vier Tage zuvor vom Kibbuz Re'im aufgebrochen. Dort hatte auf dem nahen Supernova-Musikfestival das größte Massaker der Hamas stattgefunden. Hunderte haben sich den Angehörigen der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln angeschlossen, die ihre sofortige Freilassung fordern. Vor der Knesset werden einige von ihnen später an einem Schweigemarsch teilnehmen, zu dem die Geiselfamilien aufgerufen haben. Viele der Anwesenden halten Schilder mit Porträts der Verschleppten hoch. "Die Tage vergehen und nichts passiert", sagte eine Teilnehmerin, "Die Familien sind am ertrinken". In Tel Aviv ist die Kaplanstraße erneut Ort der größten Demonstration. Eine riesige Menschenmenge hat sich mit Protestschildern, Bannern und Flaggen versammelt. Bereits kurz nachdem die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu antrat, nahmen monatelang Zehntausende im Zentrum Tel Avivs an den Kundgebungen teil, um gegen deren geplante Justizreform zu demonstrieren. Erst der Krieg brachte die Protestzüge zum Erliegen.
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