Leitartikel

Politik

Mein Treffen mit Christian Wulff

Und was man aus dem Verhalten von Politik und Medien gegenüber dem Bundespräsidenten lernen kann


Es war purer Zufall, dass ich den Bundespräsidenten Christian Wulff kennenlernen durfte. Denn die Einladung, zum 150-jährigen Jubiläum unseres "Straubinger Tagblatts" zu kommen, war noch an seinen Vorgänger Köhler gegangen. Auch dass der kommen sollte, war nur ein glücklicher Umstand. Denn Köhler kommt aus einer armen und kinderreichen Familie aus Baden-Württemberg. Es waren wohl sieben Geschwister, und dass der kleine Köhler auch nur auf ein Gymnasium gehen sollte,

wurde ihm nicht an der Wiege gesungen. Aber ein Lehrer Balle, der nur ganz weitläufig mit meiner Familie verwandt ist, besuchte die Eltern so oft, bis er sie überzeugte, dass der Sohn aufs Gymnasium gehen müsse, weil er so begabt sei. Köhler vergaß es dem Lehrer Balle nie und also sagte er zu, gegen alle Widrigkeiten, dass er aus dem Berliner Schloss Bellevue nach Niederbayern reisen wolle, um beim Festakt des "Straubinger Tagblatts" 2010 dabei zu sein.

Als habe der Sonnengott persönlich vorbeigeschaut

Neue Präsidenten müssen den Terminkalender ihrer Vorgänger nicht einhalten. Sie haben neue Beziehungen und neue Verabredungen. Und so war es eine liebenswürdige Gefälligkeit von Christian Wulff, dass er den Termin in Straubing nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten wahrnehmen wollte. Notwendigkeit gab es keine. Auch keine Vorteile. Es war einfach eine liebenswürdige Geste, diesen Termin nicht platzen zu lassen. Als der Präsident dann kam, im November vor einem Jahr, da
stand die Zeit kurz still in Straubing. Seine junge schöne Frau hatte er nicht mitgebracht; aber die lokale Politikprominenz scharte sich um den neuen Bundespräsidenten, als habe der Sonnengott persönlich vorbeigeschaut.

Und als er sich im Rittersaal von Straubing ins Goldene Buch der Stadt eintrug, da warfen ihm die vielen angereisten Reporter aus ihrem abgegrenzten Bereich über die Absperrung ihre kleinen und sinnleeren Fragen zu; und der frischgebackene
Präsident beantwortete sie freundlich, während er gleichzeitig seinen Namen ins Buch der Stadt einschrieb. Nicht mehr von dieser Welt ist man also, wenn man Bundespräsident ist, so schien es mir damals, auch wenn ich mich sehr über das Eintreffen des hohen Gastes freute.

Die Karawane der einstigen Günstlinge zieht weiter

Und er hielt eine gute Rede. Hinter dem Rednerpult stand er, als müsste er die Welt erst noch erobern: Jung, frisch und frei, und vorbereitet war er auch. Und beim Empfang sagten die Gäste alle: Eine gute Rede hat unser Präsident gehalten, eine gute Rede, eine sehr gute sogar - und man konnte nur zustimmen. Und die Politikprominenz sonnte sich wieder im Glanz des neuen Sonnenkönigs, bis er dann doch abfahren musste in eine neue, sicher genauso unwirkliche Situation im neuen Präsidentenalltag.

Als Bundespräsident Christian Wulff letzte Woche abtreten musste, war ich Gast bei einem psychotherapeutischen Fachkongress in München. Ärzte waren da, Psychotherapeuten, auch ein sehr bekannter Professor, der an der Musikhochschule in München Klavier unterrichtet. Ein heilsames Klima gibt es dort, menschenfreundlich, dem Anderen zugetan. Und das Thema war nicht, dass dieser Bundespräsident sich wohl tatsächlich fehlverhalten hat, was niemand abstreiten kann, sondern das eigentliche Thema war, mit welcher Grausamkeit und Brutalität in unserer Gesellschaft zur Jagd geblasen wird auf die, die sich fehlverhalten haben. Da gibt es dann kein Pardon mehr; da gibt es keinen Gedanken mehr daran, dass der, den man gestern noch zum Sonnengott verklärt hat, aber heute als Präsidenten nicht mehr haben will, auch wieder in einen neuen Tag und einen neuen Morgen aufwachen muss, aufwachen will und aufwachen wird. Daran denken die Therapeuten. Aber alle die, die sich vorher im Blitzlichtgewitter der Kameras gar nicht genug ablichten lassen konnten, die schweigen jetzt, die sind jetzt ruhig, sie sind beruhigt, dass der, der ihrer Karriere jetzt schaden könnte, endlich abgetreten ist. Die Karawane zieht weiter, ein neuer Präsident wird kommen, man wird sich wieder in seinen Dunstkreis stellen und das geübte, das gewohnte Kameralächeln aufsetzen.

Vieles wird man vergessen von dieser Affäre, aber manches hat sich für immer eingeprägt. Die ätzende Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD. Dass eine Frau sich so jedes mitmenschlichen Gefühls begeben mag und in der blanken und bloßen Aggression gegen den politischen Gegner alle eigene Würde vergisst. Wie ein schriller Schrei zog sich ihr Keifen über den Tag durch die Nachrichtensendungen auf allen Kanälen. Unerträglich, unerbittlich. Oder die Dauer-Hysterika Claudia Roth von
den Grünen. In jede Kamera bläst sie ihre ernstgemeinte Empörung über die Fehler der Anderen. So viel psychotherapeutische Kompetenz hatte noch nicht einmal unser Fachkongress, dass man ihr aus ihrem Agieren heraushelfen könnte. Da müsste man schon einen psychotherapeutischen Weltkongress einberufen. Und dann wär's nicht sicher, wie's ausgeht.

Das System der Medien in der Affäre Wulff

Es müssen gespenstische Szenen gewesen sein, die sich auf Wulffs letzter Dienstreise nach Rom abgespielt haben. Die mitgereisten Reporter kennen jetzt keine Grenzen mehr: Ein Kollege vom "Stern" fragt den Bundespräsidenten im Flugzeug tatsächlich, so berichtet es das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", ob er aus "Angst vor Mittellosigkeit" nicht zurücktrete; andere maulen, ob er ernsthaft meine, dass sich irgendjemand für seine Reise nach Italien interessiere. Ja, Journalisten, die sich nicht mehr an Absperrungen halten müssen, haben für gewöhnlich wenig Niveau und sie kennen keine Rücksicht. Sie zeigen, wer sie wirklich sind. Aus der konturlosen Masse des Begleittrosses treten sie heraus und zeigen ihre hässlichste Fratze.

Überhaupt das System der Medien in der Affäre Wulff: Es war nicht nur eine Affäre Wulff, es war vor allem auch ihr eigener Offenbarungseid. Der Journalismus zeigte seinen ganzen Mangel an Kreativität und vor allem seinen Mangel an Geist. Über
Wochen kannten die Talkshows kein anderes Thema. Es wäre zu viel der Ehre, zu unterstellen, dass dahinter die nachhaltige Entscheidung der Medienmacher stand, diesen Präsidenten im medialen Dauerbeschuss abzulösen. Nein, man war schlicht
zu geistlos, um ein anderes Thema zu finden - und die Quote tut ein Übriges. Über quälende Wochen mussten wir die immer gleichen Journalisten, Politikberater und Pseudoexperten in der quälenden Dauerschleife des öffentlichrechtlichen
Fernsehens ertragen. Sie kannten nicht nur mit dem Präsidenten kein Erbarmen, sondern vor allem auch nicht mit uns, mit den Fernsehzuschauern. In ihrer selbstgemachten Wichtigkeit saßen sie da und deuteten die Unterwäsche des Bundespräsidenten - und wir waren ihre Opfer.

Immerhin reflektierte das angesehene Medienmagazin "journalist" dieses Problem. In seiner Februarausgabe schreibt es in der Titelgeschichte: "Von der Krise in den Medien über eine Krise mit den Medien zur Krise der Medien selbst - Christian Wulffs
Affäre wirft ein fahles Licht auf den Journalismus insgesamt, der sich mal wieder im Kreis dreht." Und legt den Finger auf die entscheidende Wunde: dass ein Medium wie "Bild", das den Namen Zeitung eher zu unrecht für sich reklamiert, alle anderen
Medien vor den eigenen Karren zu spannen vermochte: "Mit Geschick und Timing ließ das Blatt die Medienwoge um das häuslefinanzierende Staatsoberhaupt zur Monsterwelle anschwellen, bis alle Kanäle der Aufmerksamkeitsindustrie verstopft
waren."

Ein Gebräu aus Aggression und Geistlosigkeit

Dass sich die anderen Medien vom minderen Boulevardblatt "Bild" einen Diskurs aufzwingen ließen, das verstört nachdrücklich. Dass im Herausgebergremium der altehrwürdigen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die mit großer Vehemenz hinter
der "Bild" herruderte, keiner auf die Idee kam, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, das bleibt überraschend. "Deutschlands größte Boulevardzeitung ist durch ihr Gebräu aus schierer Marktmacht, bedingungsloser Unterhaltsamkeit,
soziokultureller Ruchlosigkeit und der zugehörigen Chuzpe nicht erst unter Brachialjournalist Kai Diekmann in der Lage, Nachrichten gezielt zu steuern", so analysiert Jan Freitag in dem genannten Artikel im "journalist" zutreffend. Solcher Manipulation saßen dieses Mal nicht nur die "Bild"-Leser auf, zu spannend fanden die anderen Medien das mindere Angebot der billigen Kollegen.

Kulturell gesehen hat die Affäre um das jetzt zurückgetretene Staatsoberhaupt gezeigt, wie dünn der Firnis unserer Demokratie geworden ist. Nicht nur das wirklich hochproblematische Verhalten von Christian Wulff - vor allem seine Freundschaft zu
Carsten Maschmeyer, der tausende Kleinanleger um ihr Erspartes betrogen hat - stimmt nachdenklich, sondern auch welche Aggressivität und welche Geistlosigkeit sich symptomatisch in Politik und Medien in den letzten Wochen gezeigt haben. Dass
es um die demokratische Grundsubstanz in diesem Land nicht mehr allzu gut bestellt ist, das sagen die Politikwissenschaftler seit Jahren. Die Affäre Wulff hat es auf ihre Art bestätigt.

Christian Wulff wird wohl nie mehr nach Straubing zurückkehren. Er wird sich nicht mehr in den Goldenen Büchern von Städten eintragen, die ihn vorher im gleißenden Kameralicht begrüßten. Es werden sich keine Parteifreunde mehr an seiner Seite
sonnen. Immerhin schreit Andrea Nahles jetzt nicht mehr in die Mikrophone; und Claudia Roth freut sich in den Kameras über den neuen Bundespräsidenten und hat sich so wenigstens zeitweise beruhigt. Der frühere Bundespräsident Christian Wulff
hat jetzt erst einmal viel freie Zeit. Er könnte in dieser Zeit gute Literatur lesen. Falls er dabei den Roman "Gantenbein" von Max Frisch in die Hände bekommt, könnte es sein, dass er den entscheidenden Satz des traumatisierten Helden liest: "Ein Mann
hat eine Erfahrung gemacht. Jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung. Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt." Und eines kann man schon jetzt festhalten. In Gesellschaft von Max Frisch zu sein, ist beileibe besser
als die Entourage, die ihn bisher begleitete.