Leitartikel

Politik

Kein Zeichen von Weltklugheit


Das vielleicht seltsamste Gleichnis, das sich im Neuen Testament findet, erzählt von einem treulosen Verwalter. Der hat das Vermögen seines Chefs verschleudert, während der auf Reisen ist. Im Vorfeld seiner Rückkehr signalisiert dieser reiche Mann seinem Verwalter nun also, dass er ihn entlassen werde, sobald er zu Hause sei. Daraufhin erlässt der Verwalter, weil er ja die Unterschriftenvollmacht seines Herrn noch hat, dessen Schuldnern vor der Rückkehr seines Herrn einen Teil ihrer Schulden. Und denkt sich dabei: "Ich weiß, was ich tun muss, damit mich die Leute aufnehmen, wenn ich als Verwalter abgesetzt bin." Eine letzte Chance also, mit heiler Haut aus seiner verfahrenen Situation herauszukommen, das ist es, was der Verwalter, der auf verlorenem Posten steht, zu gewinnen sucht. Er verschenkt abermals Geld, dieses Mal aber, um zu überleben. Unmoralisch ist ein solches Verhalten, es entspricht nicht den Regeln des ehrbaren Kaufmanns, schon gar nicht ist es rechtens, was er sich anmaßt. Aber Lukas endet dieses seltsame Gleichnis mit den Worten: "Und der Herr lobte die Klugheit des unehrlichen Verwalters und sagte: ,Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes.'"

Als die Mächtigen der Welt vor wenigen Tagen in Australien ihren russischen Kollegen Wladimir Putin alleine am Katzentisch essen ließen wie einen Schuljungen, bei dem keiner mehr sitzen will, und die Kameras aus aller Welt das auch noch filmten, war von solcher Weltklugheit wenig zu erkennen. Moralisch sicher richtig: Da hat einer alle Regeln des Völkerrechts gebrochen. Und er will auch nicht einlenken. Also - ausschließen. Moralisch alles in Ordnung. Wer aber den Blick von Putin nur kurz auf sich wirken lässt, der spürt: Das ist der Blick eines verwundeten Löwen, der mit hoher Aggressivität um sein Leben und auch seine Würde kämpft. Der Mann, der sich gerade noch gerne mit einem erlegten Krokodil auf den nackten Schultern einer
Weltöffentlichkeit präsentierte, der Mann, der ganz Russland mit immensem Aufwand für die Show der Olympischen Spiele in Sotschi in Schulden stürzte, nur um als Mann und als Land gut auszusehen, der also soll sich jetzt abfinden mit der Rolle
des Ausgeschlossenen? Der soll in Zukunft berechenbar handeln, weil ja sonst die Sanktionen, mit denen die Weltgemeinschaft Russland strafen will, immer härter werden?

Das sind Vorstellungen, die eher mit Kindergeburtstag und dem Glauben ans Christkind zu tun haben! Es ist nur der Hass, der sich so immer tiefer in Putin hineinfrisst, wo er sich in dieser Weise auf Schritt und Tritt gedemütigt fühlt. Der Blick, mit dem Putin in Australien aus dem Flugzeug ausstieg, war ein Abgrund von Hass und Aggressivität. Von Verletzung und auch von Getriebensein. Wer sich aber getrieben fühlt und wer hasst, der wird wirklich unberechenbar, die westliche Welt mag sich ihre moralischen Rosarotbrillen jeden Tag wieder neu über die Augen stülpen - mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun.

Dann kommen die Gegenargumente: "Aber wir können doch nicht zulassen, dass einer die Grenzen der Welt nach eigenem Gutdünken verschiebt! Aber es ist doch nicht in Ordnung, dass einer die imperiale Perspektive des letzten Jahrhunderts in die
Weltpolitik zurückbringt!" Oder auch: "Denken Sie an die Appeasementpolitik 1938, erst durch das Zögern der anderen konnte Hitler schalten und walten, wie er wollte!" Die Gegenfrage wäre: Will Putin tatsächlich die Welt in Brand setzen? Droht uns
wirklich, wenn wir in der Ukraine ein wenig zurückstecken, auch wenn wir recht haben, einfach nur, um uns selbst zu schützen, droht uns dann ein Ausgreifen Putins mitten hinein in unser friedliches und geeintes Europa? Eine andere Gegenfrage
wäre: Wenn es tatsächlich auch noch um Georgien, Moldawien und sogar Serbien geht - bedeutet das dann eine Gefahr für uns? In Frankreich, in Deutschland, in Italien? Oder auch in Norwegen oder Schweden? Oder in Polen? Wohl kaum! Und
kein Satz wird heute von den Historikern für dümmer gehalten als der eines verstorbenen SPD-Politikers, der da sagte, dass die deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde.

Sicher, es empört uns, dass da einer wie eine Mischung aus Django und Rambo durch die politische Ordnung des 21. Jahrhunderts hindurchpflügt, als gelte sie nicht. Keine Regeln akzeptieren will. Auf stur schaltet. Die andere Seite aber ist: Russland
fühlt den Phantomschmerz der verlorenen Weltmacht. Der verlorenen Bedeutung. Allzu schnell haben sich die Landkarten in wenigen Jahren verändert - und niemand war stärker betroffen als Russland. Kohl und Teltschik haben noch mit Jelzin
gesprochen, weil sie wussten, wie sensibel die russische Seele ist. Und dass Demütigungen immer bezahlt werden wollen, sodass es gilt, sie im Vorhinein zu vermeiden. Angela Merkel spricht schon auch noch drei Stunden mit Putin. Aber das sind eher Gespräche, die einer Therapiestunde zwischen Arzt und Patient gleichen - und der Patient will halt nicht einsehen, weshalb der andere jetzt der Arzt sein soll, wo doch zu Hause für beide die Militärkapellen ihre schönen Märsche blasen. Also lässt Putin ein Kriegsschiff vor Australien kreuzen, fast kindisch - und lustig, wenn es am Ende nicht so ernst werden könnte.

Die entscheidende Frage also muss lauten: Macht uns in Deutschland eine Politik, die Russland immer mehr in die Ecke drängt, die das Völkerrecht einfordert und die mit allem Recht und aus gutem Grund die moralische Perspektive wählt, macht eine
solche Politik unser Leben hier sicherer oder nicht? Das ist doch die Frage, um die es für uns geht. Nicht die Frage, ob wir einknicken dürfen oder nicht! Ob wir weglaufen dürfen oder nicht! Wer wegläuft, fragt nicht, ob er jetzt weglaufen darf. Sondern er
läuft weg, weil er es mit der Angst zu tun bekommt. Und Angst ist nicht immer der schlechteste aller Ratgeber.

Auf der einen Seite muss gelten: Wir dürfen nicht wegschauen. Wir dürfen die Standards des Völkerrechts nicht preisgeben. Wir müssen immer wieder betonen, wo wir stehen und was rechtens ist. Aber es darf auch sein, dass wir nachgeben, wenn
wir spüren, dass dies der bessere Weg ist, den Frieden in der Welt zu erhalten. Nicht aus Schwäche, sondern um mit einigermaßen heiler Haut aus einer verfahrenen Situation herauszukommen.

Der betrügerische Verwalter im Lukasevangelium rettet seine Haut mit einem letzten Betrug. Was aber ist die tiefste Weisheit dieser Textstelle? Dass er tatsächlich damit durchkommt? Nein. Die letzte Weisheit dieser Geschichte ist, dass der Herr sich
außerhalb der moralischen Gefechtslage stellt. Dass er die Perspektive ändert und den betrügerischen Verwalter versteht. Er rechtfertigt sein Verhalten nicht. Aber er lässt ihn davonkommen. Und er murmelt für sich den klugen Satz, dass die Kinder
dieser Welt manchmal klüger sind als die Kinder des Lichts. Das Licht leuchtet ja trotzdem!