Politik

Großbritannien: "Winter des Unbehagens" ist zurück

Großbritannien erlebt die größten Streiks seit über zehn Jahren - das weckt Erinnerungen.


Protestierende Lehrer in London.

Protestierende Lehrer in London.

Von S. Ebner

Zunächst war es nur eine kleine Gruppe von Lehrern, die sich am Mittwoch Vormittag bei strahlendem Sonnenschein vor dem Gebäude der BBC in London versammelte, um Richtung Westminster zu marschieren. Dann jedoch schwoll der Protestzug an, wurde mehrere Kilometer lang. Es lag Aufbruchstimmung in der Luft. Auf Schildern machten die Menschen klar, warum sie auf die Straße gingen: "Rettet unsere Schulen" war dort zu lesen; oder auch "Tories raus".

Auf der Insel fand der größte Streik seit über zehn Jahren statt. Mehrere Hunderttausend Lehrer, Lokführer, Beamte, Dozenten und Sicherheitskräfte diverser Gewerkschaften gingen landesweit für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße.

Angesichts dieses Ausmaßes werden Vergleiche mit dem "Winter des Unbehagens" Ende der 1970er gezogen. Damals legten Tausende im Kampf um bessere Löhne ihre Arbeit nieder. Müllberge und der Stillstand des Transportwesens führten 1979 schließlich zum Sturz der Labour-Regierung. Aus Sicht der Öffentlichkeit wurden die Gewerkschaften damals zunehmend zum Beherrscher von Land und Wirtschaft. Die neu gewählte konservative Premierministerin Margaret Thatcher schränkte ihre Macht deshalb massiv ein.

Auch diesmal könnten die Streiks den Abstieg der Regierung beschleunigen, allerdings unter anderen Vorzeichen. Schließlich hat sich der Unmut im öffentlichen Dienst angebahnt. War dieser durch viele Sparmaßnahmen nach zwölf Jahren Tory-Regierung am Limit, haben Pandemie, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten das Fass zum Überlaufen gebracht. Die staatlichen Arbeitnehmer fühlen sich angesichts der Belastungen nicht wertgeschätzt. Und: Viele Briten verstehen das.

Früher nutzten die Tories Streiks, um gegen die Labour-Partei wegen ihre Nähe zu den Arbeitnehmervertretern Stimmung zu machen. "Diesmal haben sich die Sympathien der Öffentlichkeit jedoch verschoben", kommentierte die Online-Zeitung "Politico". Laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov unterstützen 65 Prozent der Briten die Streiks des Pflegepersonals, 47 Prozent jene der Lehrer. Dies bestätigt auch Ronak Giuntini, eine Lehrerin, die an den Demonstrationen in London teilnahm. "Die meisten Eltern unterstützen uns. Nach der Phase der Lockdowns, in welcher sie ihren Kindern beim Online-Unterricht helfen mussten, wissen sie, dass dies kein leichter Job ist."

Bislang jedoch beharrt Premierminister Rishi Sunak auf dem Standpunkt, dass die geforderten Lohnerhöhungen nicht möglich seien, weil sie die Inflation weiter in die Höhe treiben würden. Gleichzeitig haben die Tories einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der nun vom Oberhaus geprüft wird. Er soll die Gewerkschaften zwingen, eine Grundversorgung sicherzustellen, etwa bei Rettungs- und Sicherheitskräften oder der Bahn. "Wie hoch diese sein muss, könnte die Regierung dann im Alleingang bestimmen", sagt Joelle Grogan von der Denkfabrik "UK in a Changing Europe".

Laut Experten spielen die Tories überdies auf Zeit. Sie hofften darauf, dass der Rückhalt für die Streiks in der Bevölkerung mit der Zeit sinkt. Die Gewerkschaften haben indes weitere Ausstände angekündigt, im März und im April.