Messerangriff bei Stadtfest

Der Anschlag von Solingen, Deutschland und der Tag danach


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Viele Menschen in Solingen trauern.

Von dpa

Freude ist Angst gewichen. Musik und Lachen einer gedämpften Stille. Am Morgen nach dem Stadtfest von Solingen, über das nun alle sprechen, pfeift ein Wind durch eine menschenleere Fußgängerzone. Hinter einem Absperrband, bewacht von Polizisten, sieht man noch ein stillstehendes Karussell mit Bärchen-Motiven, an einer Bühne flackern immer noch Scheinwerfer. Aber niemand ist mehr da. Absolut niemand.

Solingen, eine 160.000-Einwohner-Stadt eingeklemmt zwischen Düsseldorf, Köln und Wuppertal, kämpft mühsam damit, das Geschehen zu verarbeiten, das sich am Freitagabend auf der Feier zu ihrem 650. Geburtstag ereignet hat, dem "Festival der Vielfalt". Und mit ihr, so viel kann man wohl schon sagen, ein ganzes Land. Noch in der Nacht reist NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert eine harte Strafe für den Täter.

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Blumen liegen in der Nähe des Tatorts in Solingen.

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Beamte sichern rund um den Tatort Spuren.

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Auch Landesinnenminister Herbert Reul begab sich zum Tatort.

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Der Tatort wurde von der Polizei weiträumig abgesperrt.

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Ein Unbekannter hat eine Botschaft an die Toten hinterlassen: «Wir vergessen Euch niemals».

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Am Morgen steht Solingen unter Schock.

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Aus der Luft sind am Tatort noch Zelte zu sehen. Auch eine Bühne ist noch aufgebaut.

Dabei weiß man zu diesem Zeitpunkt noch fast nichts zu den Hintergründen. Was man weiß: Am Freitagabend um 21.37 Uhr gehen mehrere Notrufe bei der Polizei ein. Ein Täter - es soll ein Mann sein - sticht offenbar gezielt auf Menschen ein. "Hier sticht jemand die Leute ab!", habe ein Team-Mitglied ins Telefon gebrüllt, berichtet Stadtfest-Mitorganisator Philipp Müller dem WDR. Dann sei die Verbindung zusammengebrochen.

Panik bricht aus. Drei Besucher - zwei Männer im Alter von 67 und 56 Jahren und eine Frau von 56 Jahren - sterben, mehrere Menschen werden schwer verletzt. Nach der Tat flüchtete der Angreifer offenbar im Tumult. Ein 15-Jähriger wird später zwar festgenommen, aber nicht für den Täter gehalten. Womöglich soll er zuvor mit dem Täter gesprochen haben.

Die Staatsanwaltschaft schließt einen terroristischen Hintergrund für die Tat nicht aus. Grund dafür ist aber auch, dass ein anderes Motiv bislang wohl schlicht nicht ersichtlich ist. Der Täter bleibt im Großen und Ganzen eine Art Phantom, was die Lage sehr diffus macht. Es gibt erst einmal kein Fahndungsfoto. Eine Videoüberwachung der Polizei gab es nicht.

Wer war es? Es ist nicht viel, was die Ermittler der verunsicherten Öffentlichkeit in den Stunden nach dem mutmaßlichen Anschlag mitteilen können.

Denn so unklar noch vieles an der Tat ist - so greifbar ist die Gefühlslage in Solingen. Menschen legen Blumen nieder. "Ich habe zu meinem Mann gesagt: Wir können nicht mehr da hingehen, wo viele Menschen sind", sagte eine ältere Frau, die seit Jahrzehnten in einem Haus direkt am Tatort wohnt. Plötzlich habe man ein Messer im Rücken. "Da musst du Angst haben", sagt sie.

Ein Mitarbeiter eines Eiscafés fragt sie vorsichtig, ob sie etwas von der Tat mitbekommen habe. Sie verneint. Er sagt: "Besser so."

Eine andere Anwohnerin sagt gleichsam, dass sie Angst habe. In der Nacht habe sie kein Auge zugemacht. "Polizei, Feuerwehr, Hubschrauber", zählt sie auf. Sie selbst sei nicht auf dem Fest gewesen, obwohl sie es zeitweise vorgehabt habe. "Wir wollten. Aber wir sind froh, dass wir nicht gegangen sind." Vor allem verstöre sie, dass die Sicherheitsvorkehrungen offenbar nicht ausgereicht hätten. "Ich kann das nicht verstehen", sagt sie resignierend. "Solingen ist momentan sehr oft in den Schlagzeilen."

Diesen Satz hört man in der Stadt auffällig oft. Solingen, das immer in den Schlagzeilen sei. Und nun schon wieder. Im März waren in der Stadt bei einem Feuer vier Menschen in einer Dachgeschosswohnung gestorben. Gelegt haben soll es ein ehemaliger Mieter.

Im Juni ließ ein Mann vor einem Solinger Geschäft eine Flasche mit einer Substanz fallen lassen, wodurch es zu einer Explosion kam. Der Mann starb wenig später. Im Raum steht, dass der Fall eine Verbindung zu den Machenschaften der sogenannten niederländischen Mocro-Mafia hat, über die in NRW seit Wochen diskutiert wird.

Viele Menschen werden sich auch noch an einen nächtlichen Brandanschlag in Solingen im Jahr 1993 erinnern, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet wurden. Der Anschlag markierte damals den Tiefpunkt einer Serie rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland.

All das sollte bei der 650-Jahr-Feier eigentlich keine Rolle spielen. Solingen bemüht sich um eine positive Außendarstellung. Die "Überschaubare Großstadt zwischen den Metropolen" (Eigenbeschreibung) nennt sich - ausgerechnet - "Die Klingenstadt Deutschlands", weil es eine Tradition in der Herstellung von Klingen, Messern und Scheren gibt, im Mittelalter vor allem von Degen und Schwertern. In der Stadt steht auch das "Deutsche Klingenmuseum".

Aber nicht nur Solingen wird mit den Geschehnissen irgendwie umgehen müssen, sondern auch Deutschland. Messerangriffe haben zugenommen, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte erst jüngst ein verschärftes Waffenrecht angekündigt, was die Diskussion aber nicht grundlegend beruhigte. Und in einer Woche stehen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen an.

Wenige Schritte vom Tatort in Solingen entfernt hat jemand einen Zettel hinterlassen. Darauf ist zu lesen: "Wir vergessen Euch niemals."


Dieser Artikel ist Teil eines automatisierten Angebots der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Er wird von der idowa-Redaktion nicht bearbeitet oder geprüft.