Expertin im Interview
Wie Deutschland bei Tierversuchen EU-Recht umgeht
12. November 2019, 10:38 Uhr aktualisiert am 12. November 2019, 17:24 Uhr
Mitte Oktober sorgte das "Laboratory of Pharmacology and Toxicology" (LPT) in der Nähe von Hamburg für medialen und gesellschaftlichen Aufruhr: Heimlich gefilmte Bilder der Tierschutz-Organisation "Soko Tierschutz" offenbarten die schockierenden Zustände, unter denen Versuchstiere in der Einrichtung dahinvegetierten. Es folgten Demonstrationen, Petitionen zur Schließung des Labors und staatsanwaltschaftliche Ermittungen.
Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche e.V." wies bereits vor Veröffentlichung der Aufnahmen in einer Pressemitteilung darauf hin, dass in Deutschland Nachholbedarf beim Thema Tierversuche besteht. Die seit 2010 bestehende EU-Tierversuchsrichtlinie werde nicht ausreichend eingehalten, es drohe nun eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Bundesregierung habe Besserung gelobt, jedoch um eine Verlängerung der Reform-Frist bis November 2020 gebeten. Als besonders problematisch werden in der Mitteilung der sogenannte "Forcierte Schwimmtest", bei dem Ratten so lange in einem Wasserglas schwimmen müssen, bis sie keine Hoffnung mehr auf Rettung haben, und die "Erlernte Hilflosigkeit" durch Tests mit Elektroschocks, denen sich die Tiere nicht entziehen können, genannt.
Im Interview mit idowa eklärt Dr. Gaby Neumann, Pressesprecherin von "Ärzte gegen Tierversuche", ob die Bilder aus dem "LPT" in Deutschland der Regelfall sind - und warum Länder in der EU sogar Probleme bekommen können, wenn sie zu viel Tierschutz betreiben.
In Ihrer Pressemeldung erwähnen Sie ja schon zwei Beispiele von ethisch fragwürdigen Tierversuchen - gibt es denn noch weitere Tierversuche in Deutschland, die Sie nach geltendem EU-Recht als unzulässig einstufen würden?
Dr. Gaby Neumann: Bezogen auf das EU-Recht geht es da um die Versuche mit dem Schweregrad "Schwer", also solche, bei denen den Tieren besonders schwere Schäden, Leiden oder Ängste zugemutet werden oder die sehr lange andauern. Im EU-Recht besteht wenigstens die Möglichkeit, dass die Mitgliedsländer diese nicht mehr zulassen. Deutschland hat das aber nicht so umgesetzt.
Inwiefern?
Dr. Neumann: Hierzulande ist es so, dass solche Versuche ganz normal genehmigt werden können, wie andere Versuche auch. Das sollte laut EU-Recht so nicht der Fall sein, weil diese Versuche nur in Ausnahmefällen und vorübergehend von den Mitgliedsstaaten genehmigt werden, bevor dann eine Beurteilung durch die EU-Kommission erfolgt. Zusätzlich sollte eigentlich auch immer die sogenannte "Unabhängige Schaden-Nutzen-Abwägung" stattfinden, die bestimmt, ob genügend Nutzen das Leiden der Tiere rechtfertigt. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Die Kommission, die diese Versuche begutachtet, ist nicht unabhängig und hat nur eine beratende Funktion. Die Regierungsbehörden dürfen einen Versuch auch nicht ablehnen, wenn dieser vom Experimentator genügend erklärt wird, wenn also angegeben wird, dass er ethisch vertretbar und wissenschaftlich sinnvoll ist. Dann muss der Versuch "durchgewunken" werden, das ist also nur eine Plausibilitätskontrolle. Wenn der Antrag der Form entspricht und ausreichend ausgefüllt ist, müssen solche Versuche genehmigt werden.
Welche Versuche stufen Sie als besonders problematisch ein?
Dr. Neumann: Bei den "Schweregrad-Schwer"-Versuchen gibt es neben sowas wie der "Erlernten Hilflosigkeit" in Deutschland beispielsweise auch noch Toxikologie-Studien über sehr lange Zeit oder Versuche aus der Krebs-Forschung, wo eine sogenannte "Survival-Kurve" erstellt wird. Das bedeutet, dass den Tieren künstlich Krebszellen eingepflanzt werden, dann entwickeln sie Tumore und dann wird eben geschaut, wie lange diese Tiere überleben. Das ist für uns bei "Ärzte gegen Tierversuche e.V." vor allem auch deshalb so fragwürdig, weil es heutzutage innovative und humanrelevante Methoden gibt, mit denen man solche Dinge testen kann, ohne dafür Tiere leiden zu lassen.
Mit welchen Tieren werden diese Krebs-Versuche und Toxikologie-Studien normalerweise durchgeführt?
Dr. Neumann: Die Krebs-Sachen werden hauptsächlich mit Mäusen und Ratten gemacht, aber durchaus auch mit anderen Tieren. Toxikologie-Studien wurden zum Beispiel auch ganz viel dort im LPT-Labor bei Hamburg gemacht - und da wurden, gerade bei Langzeit-Studien, auch ganz häufig Hunde und Affen eingesetzt.
Wie muss man sich das vorstellen? Da werden Tiere vergiftet, um zu sehen, wie die Gifte wirken?
Dr. Neumann: Genau. Langzeit-Toxikologie-Studien gehen über mehrere Wochen bis Monate, häufig sind es 90 Tage oder mehr. Über diesen Zeitraum kriegen die Tiere einen bestimmten Stoff verabreicht, beispielsweise über eine Magensonde, mit Spritzen oder auf die Haut aufgetragen. Gerade wenn es um Hautverträglichkeit geht, wird auch oft mit Kaninchen gearbeitet - und das dann eben auch über sehr lange Zeiträume.
Deutschland setzt EU-Tierversuchsrichtlinie sehr schlecht um
Werden in Deutschland eigentlich auch noch Experimente mit Primaten oder anderen Affen gemacht?
Dr. Neumann: 2017 sind in Deutschland 3.472 Affen in Versuchen eingesetzt worden, das sind 1.000 mehr als noch im Vorjahr. An ihnen werden Infektionsversuche, Hirnforschung, Giftigkeitsprüfungen und vieles mehr gemacht. Versuche mit Menschaffen sind zwar in Deutschland seit 1991 nicht mehr durchgeführt worden, aber Deutschland hat sich da ein Schlupfloch offen gehalten: Unter bestimmten Voraussetzungen, falls zum Beispiel großflächig eine Infektion in der Bevölkerung ausbricht, dürfen trotzdem Menschenaffen-Versuche stattfinden. Und man hat ja auf den Videos aus dem LPT erst wieder gesehen, dass dort durchaus an nicht-menschlichen Affen Versuche gemacht wurden.
Was genau wurde an diesen Affen dort studiert?
Dr. Neumann: Das LPT ist ja ein Auftragslabor, wo vor allem toxikologische Studien gemacht werden. Man konnte da zum Beispiel sehen, dass Affen festgebunden waren, so dass die Experimentatoren an die Arm-Venen rankommen konnten. Die Tiere bekamen also wohl im Rahmen von Toxikologie-Versuchen akut oder über einen längeren Zeitraum Medikamente gespritzt.
Wie steht denn Deutschland bei den Tierversuchen im EU-weiten Vergleich eigentlich da?
Dr. Neumann: Es gibt ja seit 2010 die EU-Tierversuchs-Richtlinie, die dann im nationalen Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden sollte. Das ist dann natürlich unterschiedlich gut erfolgt - und in Deutschland eben nur sehr schlecht. Dazu gibt es auch mehrere Gutachten. Zum Beispiel eines von 2016, das die Grünen in Auftrag gegeben haben, wo 18 schwerwiegende Fehler in der Umsetzung herausgestellt wurden. Oder jetzt aktuell hat die EU-Kommission ja ein Vertragsverletzungs-Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, in dem es um 20 Punkte geht, und wo die 18 Punkte aus dem anderen Gutachten großteils noch nicht mal mit berücksichtigt sind.
"Mehr Tierschutz ist aus Wettbewerbsgründen nicht erlaubt"
Was machen andere EU-Mitgliedsländer denn besser?
Dr. Neumann: Es gibt Länder, in denen die EU-Vorgaben wesentlich besser umgesetzt wurden - teilweise aber auch zu gut! Man muss nämlich bedenken, dass die Mitgliedsstaaten in der EU auch nicht strenger als die EU-Richtlinie sein dürfen, was natürlich ein bisschen widersinnig ist: Wenn ein Land mehr Tierschutz betreiben will, dann darf es das nicht - aus Wettbewerbsgründen. Deshalb wurde zum Beispiel auch gegen Italien ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Nicht, weil dort zu wenig Tierschutz betrieben wurde, wie in Deutschland - sondern im Gegenteil, weil zu viel gemacht wurde. Italien wollte zum Beispiel die Zucht von Hunden, Katzen und Affen für Tierversuche komplett verbieten. Auch ein Verbot von Versuchen mit Drogen stand dort im Raum, oder von sogenannter Xeno-Transplantation, bei der zum Beispiel Schweine-Herzen in Paviane eingepflanzt werden. Für diese Ansätze wurde dann eben das Verfahren gegen Italien eingeleitet.
Ist die EU-Richtline momentan also das Beste, was wir haben im Hinblick auf den Tierschutz?
Dr. Neumann: Ja, daran müssen sich die Mitgliedsländer jetzt zumindest orientieren. Ob sie das beste ist, würde ich mal in Frage stellen - aber sie ist zumindest besser als das, was Deutschland jetzt daraus gemacht hat. 2012 hatte Deutschland etwa schon einmal eine Version der Gesetzgebung vorgelegt, die zwar schlechter als die EU-Richtlinie war, aber immer noch besser als das, was dann 2013 tatsächlich in Kraft getreten ist. Da gehe ich davon aus, dass Lobbyisten, die Tierversuche befürworten, Einfluss genommen haben, so dass daran nochmal ein bisschen "rumgefeilt" wurde.
Milliardenbeträge für Tierversuche
Was ist denn an der deutschen Regelung besonders problematisch?
Dr. Neumann: Die bereits erwähnte Plausibilitätskontrolle ist wirklich heftig. Wenn eine Behörde nämlich versucht, Tierversuche nicht mehr zuzulassen und Genehmigungen zu entziehen, dann kann es zu so Fällen kommen wie 2014 in Bremen: Da ging es um Hirnforschung an Affen und die Bremer Behörde hat gesagt, dass das Leid der Tiere hier zu groß wäre für den Nutzen der Forschung. Dagegen ist der Forscher dann juristisch vorgegangen - und er hat Recht gekriegt, mit der Begründung, dass zwar der Tierschutz seit 2002 im Grundgesetz verankert ist, aber die ebenfalls im Grundgesetz garantierte Freiheit der Forschung in diesem Fall höher zu werten sei.
"Die Übertragbarkeit der Ergebnisse ist schlecht"
Was müsste sich denn ganz allgemein in Ihren Augen im Bereich der Tierversuche und hier speziell beim Tierschutz ändern?
Dr. Neumann: Es wäre super, wenn viel, viel mehr Gelder in die tollen tierversuchsfreien Methoden fließen würden, die es auch heutzutage schon gibt. Denn die geben viel schnellere und effektivere Resultate und sind auch noch kostengünstiger als Tierversuche - werden aber viel zu wenig gefördert: Nur geringe Millionenbeträge fließen in die tierversuchsfreie Forschung, aber Milliardenbeträge in die Tierversuche. Wenn sich das ändern würde, würde sich alles automatisch irgendwann weiter in diese Richtung entwickeln. Die Tierversuche sind eine Methode, die dem vorletzten Jahrhundert entspringt: Die Übertragbarkeit der Ergebnisse ist schlecht und trotzdem wird immer noch daran festgehalten, was für mich einfach unverständlich ist. In England hat vor Kurzem ein Tierversuchs-Labor angekündigt, 2022 schließen zu wollen, weil man dort gesagt hat, dass die Zukunft in den tierversuchsfreien Methoden liegt. Da hinkt Deutschland, wie in vielen Bereichen, einfach hinterher.
Wir hatten ja vorher schon über das Labor in der Nähe von Hamburg gesprochen, aus dem die "Soko Tierschutz" schockierende Aufnahmen veröffentlicht hat. Ist sowas in Deutschland eher die Ausnahme oder die Regel?
Dr. Neumann: Es hat ja 2014 schon mal Undercover-Aktionen mit ähnlichen Bildern von "Soko Tierschutz" gegeben, am Tübinger Max-Planck-Institut - denn es ist nun mal so, dass Sie als Bürger nicht einfach so in diese Labore spazieren und sich die Zustände anschauen können. Deshalb ist davon auszugehen, dass das die Regel ist, und eben nicht die Ausnahme. Das lässt sich natürlich nicht so einfach belegen, weil diese Einrichtungen sich so abschotten. Aber wir als Verein haben auch Kontakt zu "Whistleblowern" (Anonymen Informanten, die auf Missstände hinweisen, Anm. d. Red.) und hören solche Dinge durchaus häufiger. In Frankreich ist vor Kurzem auch ein Buch erschienen, wo ähnliche Zustände beschrieben werden. Von daher bin ich mir eigentlich recht sicher, dass das durchaus die Regel ist, was wir hier gesehen haben.
Anmerkung der Redaktion: Medienberichten zufolge, steht zwar die Schließung des LPT unmittelbar bevor, doch das scheint nicht gleichbedeutend mit einer Rettung der dortigen Tiere zu sein. Demnach sollen bereits 76 Affen aus dem LPT in Richtung Niederlande abtransportiert worden sein. Was nun mit diesen Affen geschieht, ist unklar. Tierschützer befürchten, dass die Tierversuche dadurch nur an anderer Stelle eine Fortsetzung finden.