Wirtschaft
Urlaubsgeld verwenden, um Mindestlohn "aufzustocken"?
25. Mai 2016, 8:23 Uhr aktualisiert am 25. Mai 2016, 8:23 Uhr
Mindestens 8,50 Euro pro Stunde müssen es sein - so will es das Mindestlohngesetz. Es soll Millionen von Arbeitnehmern mehr Geld bringen. Erstmals beschäftigt sich jetzt das Bundesarbeitsgericht mit Problemen bei der Lohnuntergrenze.
Sie hat sich bis zur letzten Instanz geklagt: Die Brandenburgerin will nicht akzeptieren, dass ihr Arbeitgeber seit Anfang 2015 das ihr zustehende Urlaubs- und Weihnachtsgeld verrechnet, um den gesetzlichen Mindestlohn einzuhalten. Die Angestellte einer Klinik-Servicegesellschaft pocht auf die 8,50 Euro pro Stunden und möchte dafür nicht die Sonderzahlungen opfern. Knapp eineinhalb Jahre nach Einführung der Lohnuntergrenze wird am Mittwoch in Erfurt das erste Mindestlohnurteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) erwartet.
Es ist von einem Grundsatzurteil die Rede. Warum?
Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler sieht im Anrechnen bisheriger Zahlungen den Hauptkonflikt bei der Umsetzung des Mindestlohngesetzes, das seit Anfang 2015 gilt. Das Spektrum reiche vom Urlaubs- und Weihnachtsgeld über Prämien aller Art bis zum Trinkgeld in der Gastronomie, sagt der Rechtsprofessor der Universität Bremen. "Der Gesetzgeber hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht." Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts sei jetzt am Zug. Er hat nach Auffassung von Däubler zu entscheiden, ob es Sinn des Gesetzes sein kann, dass Arbeitnehmer zwar einen Stundenlohn von 8,50 Euro erhalten, dafür aber andere Leistungen verlieren.
Geht es bei dem Präzedenzfall nur um diesen Aspekt?
Nein. Die Klägerin - sie kommt als Vollzeit-Angestellte in einer Cafeteria derzeit monatlich auf etwa 1.500 Euro brutto - will von den Bundesrichtern auch die Berechnungsgrundlage für Mehrarbeits- oder Nachtzuschläge klären lassen. Sie fragt: Muss dafür nicht auch der Mindestlohn von 8,50 Euro gelten? Es gehe damit um zwei Grundsatzfragen, die in der Mindestlohnpraxis immer wieder eine Rolle spielten, sagt BAG-Sprecherin Stephanie Rachor.
Wie haben die Vorinstanzen entschieden?
Die Frau hatte 2015 beim Arbeitsgericht in Brandenburg an der Havel Klage eingereicht - und verloren. Auch beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg war sie im Januar 2016 mit ihrer Forderung gescheitert, dass Sonderzahlungen nicht angerechnet werden dürfen. Dabei spielte eine Rolle, dass sie das Urlaubs- und Weihnachtsgeld jeweils in Höhe eines halben Monatsentgelts nicht in zwei Raten, sondern nach einer Betriebsvereinbarung verteilt über zwölf Monate erhält.
Der Fall landete nach nur wenigen Monaten in der höchsten Instanz. Gibt es Gründe für das Tempo?
Einige Fachleute sehen in der ungewöhnlich schnellen Entscheidung ein Indiz, dass die Bundesarbeitsrichter die Fronten bei der Mindestlohnberechnung klären wollen.
Für wen hat eine Entscheidung Bedeutung?
Das Urteil könnte Hunderttausende von Arbeitnehmer betreffen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) spricht von einigen Million Nutznießern des Mindestlohns, den sie als "Erfolgsgeschichte" sieht. Das Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geht von etwa fünf Million Arbeitnehmern aus, die vor der Mindestlohn-Einführung weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienten.
Was hat das Mindestlohngesetz bisher bewirkt?
Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat der Mindestlohn in Betrieben mit bisher vielen Geringverdienern zu deutlichen Lohnsteigerungen geführt. In Ostdeutschland habe der Lohnanstieg auf Betriebsebene nach etwa einem halben Jahr im Schnitt bei 5,2 Prozent gelegen, im Westen bei 3,4 Prozent. Gleichzeitig seien weniger Minijobs neu entstanden.
Gibt es eine Klagewelle?
Dem Bundesarbeitsgericht liegen nach Angaben von Präsidentin Ingrid Schmidt bisher nur einzelne Mindestlohfälle vor. "Es gibt keine Klagewelle", äußerte Schmidt kürzlich. Der Bremer Arbeitsrechtler Däubler gibt zu bedenken, dass Mindestlohnempfänger häufig in Bereichen arbeiteten, "wo man eher weniger prozessiert". Wenige Klagen seien nicht unbedingt gleichbedeutend mit wenigen Problemen in der Praxis.