"Zeig doch mehr von dir!"

Ein Abend bei YouNow: Wie gefährlich die Internetplattform wirklich ist


Foto: Dangubic/Fotolia

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Zu sehen ist ein fremdes Zimmer. Bücher stapeln sich in einem verstaubten Regal, im Bett liegen Kopfkissen und Decke, dazwischen sitzt ein junges Mädchen. "Danke", sagt sie lächelnd. Das wiederholt sie immer wieder. Sie ist gerade live im Netz zu sehen - auf der Internetplattform YouNow.

Warum bedankt sich Vivien (Alle Namen von der Redaktion geändert)? Weil sie Komplimente bekommt. "Du bist richtig hübsch", schreibt ein Nutzer. Ein anderer gibt ihr eine Aufgabe: "Zieh mal eine Grimasse - die lustigste, die du kannst." Vivien streckt die Zunge raus und reißt ihre Augen weit auf. Dann lacht sie laut und streicht sich durch ihre langen braunen Haare. Die 14-Jährige hat sich extra für die Internetplattform YouNow hübsch gemacht. "Ich habe mich heute für euch geschminkt. Wie findet ihr das?", fragt sie ihre Zuschauer. Antworten wie "Voll gut!" oder "Top!" folgen. Auf YouNow können sich junge Menschen live per Videoübertragung im Internet zeigen [1].

Andere Nutzer beobachten sie und können über ein Chatfenster mit ihnen kommunizieren und Fragen stellen. Bei der 14-jährigen Vivien haben sich rund 300 Zuschauer zugeschaltet.

Mindestalter: 13 Jahre

Wer den Internetdienst nutzen will, muss mindestens 13 Jahre alt sein. Schwierig ist es aber für Jüngere nicht, den Dienst zu nutzen.Nur eine Frage beim Login soll Jugendlichen unter 13 Jahren den Zugriff auf YouNow verwehren: "Wie alt bist du?" Ein Klick auf "13 oder älter" und schon sind auch Jüngere online. Sehen kann den Live- Stream jeder. Wer aber kommentieren oder selbst ein Video übertragen will, muss sich anmelden. Das geht nur über Facebook-, Twitter- oder GooglePlus-Konten [2].

Die Streams von Jugendlichen finden Nutzer unter Hashtags. Da gibt es zum Beispiel #deutsch-girl. Darunter ist Vivien gerade die beliebteste. Unter #deutsch-boy sitzen dagegen Jungs vor der Kamera. Mögen Zuschauer einen Jugendlichen besonders gerne, können sie sein Fan werden oder ihm ein "Gefällt mir" geben. Außerdem können sie Szenen aus dem Stream per Snapshot-Funktion festhalten.

Bei den Jungs hat Jan die meisten Zuschauer. Rund 280 Augenpaare beobachten, wie er gerade live durch sein Zimmer zu lauter Musik [3] tanzt. Er hat braune Haare, die er wild nach oben gestylt hat. Außerdem trägt er eine Sonnenbrille und hat sich Hasenzähne aus Pappe angeklebt. Den Zuschauern gefällt's: "Du bist so witzig!", schreibt einer, dazu viele lachende Smileys. Als Jan die Komplimente nach seiner Tanzeinlage durchliest, grinst er zufrieden und bedankt sich. "Es ist schon 21 Uhr. Noch zwei Stunden", kündigt er schließlich an.

Beim Schlafen zusehen

Bei Vivien geht es jetzt aufs Ende zu. "Ich bin müde, Leute! Noch irgendwelche Fragen, bevor ich ins Bett gehe?", ruft sie in die Kamera und reibt sich dann demonstrativ die Augen. "Ich habe eine", schreibt eine Nutzerin. "Warum bist du eigentlich bei YouNow?" Vivien gähnt. Dann zuckt sie mit den Achseln. "Weil mir sonst jeden Abend langweilig wäre", antwortet sie. Die Nutzerin meldet sich wieder zu Wort: "Hast du denn keine Freunde, mit denen du was unternehmen kannst?" Vivien atmet leicht genervt tief ein und aus. "Geht dich nichts an", sagt sie schließlich. "Und jetzt gehe ich offline." Ihre Zuschauer protestieren. "Bleib' doch noch ein bisschen", heißt es im Chatfenster. Vivien kommt eine Idee: "Wollt ihr mir beim Schlafen zuschauen?" Die Zuschauer sind sich einig: "Ja!"

Plötzlich geht die Tür zu Viviens Zimmer auf. Es ist ihre Mutter. Sie ist gut zu erkennen [4]. "Wann gehst du denn ins Bett?", will sie von ihrer Tochter wissen. "Jetzt", antwortet die 14-Jährige. Ihre Mutter verschwindet wieder. Vivien knipst das Licht aus und kriecht unter ihre Bettdecke. Die Kamera lässt sie weiterhin an.

Bei Jan ist es ruhig. Der 15-Jährige sitzt vor der Kamera. Das Licht in seinem Zimmer hat er ausgemacht. Mit einer Taschenlampe leuchtet er sich ins Gesicht und erzählt eine Gruselgeschichte. "Wissen eigentlich deine Eltern, was du hier gerade machst?", will eine Nutzerin wissen. Jan unterbricht seine Erzählung. "Ne, aber das interessiert die eh nicht", antwortet er.

Inzwischen ist es nach 22 Uhr. Unter dem Hashtag #deutsch-girl hat jetzt Alina die meisten Zuschauer. Sie ist 15 Jahre alt. "Und in zwei Wochen werde ich endlich 16", plaudert die Jugendliche aus. Sie hat schulterlange, blonde Haare. Sie sind nass. "Warum?", will ein Zuschauer wissen. "Ich hab' mich extra für euch geduscht", ruft Alina in die Kamera und lacht. Dann redet sie über ihre Schule. "Wo wohnst du?", schreibt ein Nutzer. Alina zögert nicht: "In Bayern", antwortet sie. Der Nutzer hakt nach: "Wo genau?" Die 15-jährige verrät, dass sie in München wohnt. Anschließend erzählt sie, was sie am Wochenende macht. Sie plant eine Shopping-Tour mit ihren Mädels. Sie gehen in ihr Lieblingsgeschäft [5].

"Vielleicht sieht man sich ja dort?! Und jetzt sagt mir, was ich machen soll?", bittet Alina ihre Zuschauer. Sie will eine Show liefern, verspricht sie. Ein Nutzer schreibt: "Zeig doch mehr von dir!" Die 15-Jährige steht auf und geht ein paar Schritte von der Kamera weg, damit sie fast ganz zu sehen ist. Sie trägt einen dunkelblauen Kapuzenpulli und eine enge Jeans. "Kannst du den Pulli mal ausziehen?!", fordert der Zuschauer. Alina liest es und fängt an albern herumzutanzen. Nebenbei zieht sie langsam die Jacke aus. Darunter trägt sie ein schwarzes, enges Top. Die Nutzer, die sie beobachten, freuen sich. "Du hast schöne Brüste", schreibt einer [6].

"Ich liebe euch alle!"

Zurück zu Jan: Er sitzt still vor der Kamera, trägt wie Alina einen Kapuzenpulli, in dem er sich gerade vergräbt. Er wirkt traurig. "Was ist denn los?", fragt eine Zuschauerin im Chat. "Ich will euch etwas sagen", stottert Jan. "Ich bin so dankbar, dass es euch gibt. Dass ihr mich so unterstützt, fühlt sich so gut an." Herzen überfluten den Chat. Jan formt eines mit seinen Händen. Ein Lächeln huscht über seine Lippen. "Ich werde jetzt offline gehen", sagt er vorsichtig. "Ich liebe euch alle! Gute Nacht!" Weg ist er.

Alina ist auch müde. Sie gähnt. Eine Uhr, die hinter ihr an der Wand hängt, zeigt: Es ist kurz nach Mitternacht. Sie verabschiedet sich. "Morgen bin ich wieder hier - selbe Uhrzeit", verspricht sie. Ihre Zuschauer teilen ihre Vorfreude mit, wünschen ihr dann eine gute Nacht. Da wird das Bild von Alina auch schon schwarz. Ein anderes Mädchen hat jetzt die meisten Beobachter.


[1]
"Das große Problem bei YouNow liegt darin, dass es live ist", sagt Thomas Kranig, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Datenschutzaufsicht. Alles, was vor der Kamera passiert, kann ein Nutzer nicht mehr zurückholen. Man hat keine Kontrolle darüber, ob ein Zuschauer mitschneidet. Und keiner weiß, wer sich zum Live-Stream zugeschaltet hat. Denn Internetnutzer müssen sich nicht anmelden, um einen Stream mitzuverfolgen. Die Anmeldung ist nur notwendig, wenn man chatten oder selbst vor die Kamera treten will. "Weil andere Nutzer gleichzeitig mit einem chatten, handeln Jugendliche oft unüberlegt", erklärt der Experte. Sie geben Infos über sich preis, die sie eigentlich für sich behalten sollten.

[2] Wer bei YouNow mitmachen will, kann sich nur mit seinem Facebook-, Twitter- oder GooglePlus-Benutzerkonto einloggen. Deshalb Achtung: "Wer sich so anmeldet, erlaubt YouNow Zugriff auf alle Daten, die bei den sozialen Netzwerken gespeichert sind", klärt Thomas Kranig auf. Diese Daten kann die Internetplattform auswerten und nutzen, um damit Geld zu machen.

[3] Vorsicht! "Das Abspielen von Musik im Hintergrund der Videos auf YouNow ist grundsätzlich nicht erlaubt", warnt Dr. Christian Stahl, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht von der Rechtsanwaltskanzlei Keytersberg in Regensburg. "Dafür benötigt man eine Lizenz - entweder des Rechteinhabers oder der Gema", erklärt der Experte. Die Gema ist eine deutsche Organisation, die sich um die Rechte von Leuten aus dem Musikgeschäft kümmert. Wer Musik ohne Lizenz abspielt, macht sich strafbar. "Tatsächlich verfolgt werden solche Verstöße faktisch nicht", sagt Dr. Christian Stahl. Es kann aber vorkommen, dass Abmahnkanzleien Nutzer anschreiben und Schadensersatz verlangen. Deswegen: Völlig auf Musik verzichten, Rechte kaufen oder auf rechtefreie Musik zurückgreifen. Das gilt auch, wenn Radio oder Fernseher im Hintergrund laufen. Außer es war nur ein Versehen. "Dann kann die Strafbarkeit entfallen", erläutert der Experte.

[4] Hier verletzt Vivien die Privatsphäre ihrer Mutter. Diese Privatsphäre steht im Persönlichkeitsrecht einer jeden Person. Das ist ein Grundrecht, das in der deutschen Verfassung steht. Und auch das Recht am eigenen Bild wird hier gebrochen. Es besagt, dass jeder Mensch bestimmen darf, ob und in welchem Zusammenhang Bilder von ihm veröffentlicht werden. Viviens Mutter weiß nicht, dass sie gerade live im Internet zu sehen ist. "Wenn ein Jugendlicher also bei YouNow mitmachen will, sollte er darauf achten, dass nur er selbst zu sehen ist", empfiehlt Thomas Kranig. "Ansonsten braucht er eine Einwilligung der Person."

[5] Grundsätzlich gilt: "Alles, was dazu führt, dass ein Nutzer identifiziert werden kann, sollte er nicht preisgeben", rät Thomas Kranig, Präsident des Bayerischen Landesamts für Datenschutzaufsicht. Dazu zählen vor allem Name, Schule, Wohnort und der Ort, an dem man sich gerade aufhält oder den man demnächst aufsucht. Auch Hintergrundinfos zu Hobbys sollten Jugendliche, die auf YouNow streamen, für sich behalten. Dazu gehört zum Beispiel, ob und bei welchem Verein man Mitglied ist. Denn aus all diesen Infos lässt sich schnell noch mehr über eine Person herausfinden. "Erzähle nichts von dir, was du nicht auch in der Schule ans schwarze Brett hängen würdest", nennt Verena Weigand, Bereichsleiterin Medienkompetenz und Jugendschutz bei der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, einen Anhaltspunkt für Entscheidungen.

[6] Denke gut darüber nach, was du vor der Kamera machst. Hier gilt: "Mache nichts, was du nicht auch auf der Straße oder auf dem Pausenhof machen würdest", rät Verena Weigand von der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien. Thomas Kranig fügt hinzu: "Wichtig ist, dass sich jeder Nutzer selbst kontrolliert." Nur, weil YouNow damit wirbt, dass sie viele Moderatoren haben, die das beobachten, heißt das nicht, dass man unbedarft handeln sollte. "Wenn 1.000 Leute streamen, bräuchten sie 1.000 Moderatoren, damit wirklich jeder Stream überwacht wird", sagt der Experte. Bei über 100 Millionen Videoübertragungen ist das unmöglich. Deswegen immer darauf achten, was man macht. Und bei unangenehmen Nachrichten nicht darauf reagieren und Nutzer melden. Außerdem empfiehlt Verena Weigand, mit Eltern oder anderen Vertrauenspersonen zu reden. "Das hilft, wenn unangenehme Nachrichten auftauchen." Damit die Nutzer, die so etwas schreiben, verfolgt werden können, sollten junge Nutzer solche Nachrichten immer dokumentieren.

Sichere Alternativen:
Wenn du Videos ins Netz stellen willst


Eine gute Alternative für das Live-Streaming bei YouNow ist das Drehen und Hochladen von Videos - zum Beispiel auf Youtube. "Hier haben die Jugendlichen die volle Kontrolle über das, was sie ins Internet stellen", erklärt Verena Weigand von der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien. Das findet auch Thomas Kranig, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Datenschutzaufsicht. "Hier fällt die Live-Komponente weg. Junge Menschen können sich genau überlegen, was sie vor der Kamera machen", erläutert er seine Meinung. Bevor du aber ein Video ins Netz stellst, solltest du es dir vorher genau anschauen. Überlege dir dabei, wie es vielleicht die Nutzer im Internet sehen könnten. Du kannst es auch vorher Freunden oder deinen Eltern zeigen und sie fragen, was sie von deinem Video halten.

Was tun, wenn's passiert ist:
Ein peinliches Video im Internet


Jemand hat deine Video-Übertragung auf YouNow mitgeschnitten und peinliche Ausschnitte davon im Internet veröffentlicht?! Wie kannst du dich jetzt verhalten? "Gehe am besten sofort zu deinen Eltern oder zu Vertrauenspersonen", rät Verena Weigand, Bereichsleiterin Medienkompetenz und Jugendschutz bei der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien. Wenn jemand ein Video von dir veröffentlicht, ohne dich vorher zu fragen, ist das eine Straftat. Dokumentiere genau, was du von dir nicht mehr im Netz haben willst. Frage beim Internetseiten-Betreiber an, ob er es entfernt. Auch bei der Polizei findest du Hilfe. "Wenn alle Stricke reißen, können sich Betroffene auch an unsere Behörde wenden", fügt Thomas Kranig, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Datenschutzaufsicht, hinzu. Infos dazu gibt es im Internet unter www.lda.bayern.de.

In wenigen Klicks zur Adresse:
Freistunde-Redakteur David Voltz hat YouNow ausprobiert


Erschreckend: Wenige Klicks durchs Netz reichen aus, um den Wohnort eines YouNow-Nutzers herauszufinden. Ein Beispiel: Janine (Name geändert). Sie ist 13 Jahre alt und zum ersten Mal auf der Internetplattform aktiv. Noch findet sie es merkwürdig, dass sie von fremden Menschen beobachtet wird. Sie erzählt ein bisschen, was sie tagsüber so gemacht hat und freut sich, weil sie sturmfrei hat. Ihre Eltern sind bei Bekannten. "Woher kommst du?", fragt ein Zuschauer im Chat. Janine verrät ihren Wohnort. Ein weiterer Nutzer will wissen, wie sie auf Facebook heißt. Auch hier zögert die 13-Jährige nicht und plaudert ihren Namen in dem sozialen Netzwerk aus. Ich suche Janine bei Facebook. Dort hat sie ihren richtigen Nachnamen angegeben. Und: In ihrem Profil sind Vater und Mutter verlinkt. Jetzt schlage ich in einem Telefonbuch nach. Die Namen der Eltern und der Wohnort reichen aus, um Janines vollständige Adresse herauszubekommen. Wenn jemand an dem jungen Mädchen interessiert ist, weiß er jetzt, dass sie alleine zuhause ist und wo sie wohnt. Er könnte sie also besuchen.

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Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

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Screenshot: YouNow