Fussball-Straubing

Das große Reality-Theater


Julia Britzl ist Pädagogin an der Ursulinen Schulstiftung in Straubing.

Julia Britzl ist Pädagogin an der Ursulinen Schulstiftung in Straubing.

Von Redaktion idowa

Von Julia Gabauer


Wer nachmittags den Fernseher einschaltet, könnte leicht meinen, Deutschland sei außer Rand und Band. Hier sind Teenies schwanger, Mütter betrunken, Väter aggressiv. Geld und Liebe sind knapp, an Schulen wird nur gemobbt und geprügelt. "Scripted Reality" heißt dieses Genre, das zwischen 14 und 18 Uhr bei RTL II, Sat.1, ProSieben und Co. das Programm beherrscht. Dabei spielen Laiendarsteller anhand eines Drehbuchs erfundene Handlungsstränge nach. Doch laut einer Studie ist genau das für viele junge Fernsehzuschauer nicht deutlich erkennbar.

Die 38-jährige Elli liegt im Bademantel auf dem Sofa vor dem Fernseher und futtert Kartoffelchips. Zaghaft betreten zwei Kinder die Szene. "Mama, wir haben Hunger", druckst Kevin. "Mein Gott, dann geh' doch nach McDonald's und hol' dir watt! Und jetzt geh' mir aus'n Bild!", herrscht die Mutter ihn an. Dieser Einstieg ist typisch für die RTL-Serie "Familien im Brennpunkt". Ein Kamerateam begleitet Menschen mit Konflikten, die Familiengerichte beschäftigen, heißt es. Effekte wie wackelnde Handkameras lassen alles wie eine waschechte Dokumentation wirken. Doch dem aufmerksamen Zuschauer fällt der im Abspann kurz aufblinkende Hinweis auf: "Alle handelnden Personen sind frei erfunden". Soll heißen: Die gezeigten Personen sind Laienschauspieler, die Geschichte ist erdacht.

Solche "Scripted Reality"-Formate ("geschriebene Realität") erleben vor allem bei der jüngeren Zielgruppe einen Quoten-Boom. Doch laut einer Studie ist der Hinweis im Abspann oft nicht deutlich genug. Die Gesellschaft zur Förderung des internationalen Jugend- und Bildungsfernsehens befragte 861 Kinder und Jugendliche. Heraus kam, dass 30 Prozent "Familien im Brennpunkt" für eine echte Dokumentation halten. Und immerhin 48 Prozent meinten, die Schauspieler spielen tatsächlich passierte Szenen nach. Dieses Ergebnis kann auch Julia Britzl bestätigen, Pädagogin am Gymnasium der Ursulinen Schulstiftung in Straubing. Sie hat mit einer 7. und 8. Klasse das Thema "Scripted Reality" behandelt und sagt: "Die Schülerinnen sind sich bei Weitem nicht alle sicher, ob die gezeigten Szenen echt oder gestellt sind."

Echtes Leben langweilig?
Dabei war die Ursprungsidee dieser Serien, echte Menschen mit spannenden Geschichten zu begleiten. Doch im täglichen Quotenkampf genügte die Realität irgendwann nicht mehr. Shows wie "Zwei bei Kallwass" peppten ihr Konzept mit Drehbüchern auf. Und mittlerweile denken sich Drehbuchautoren spannende Geschichten aus und Castingagenturen suchen passende Leute dazu. Bei "Scripted Reality" ist alles auf maximalen Effekt getrimmt und das wirkt. Viele Jugendlichen identifizieren sich mit den Hauptpersonen, sind fasziniert von dem Lifestyle, den coolen Klamotten. Ist das echte Leben mittlerweile zu langweilig? Doch wenn die Pädagogin die Mädels fragt, ob sie ihr Leben gegen ein WG-Leben wie in "Berlin - Tag amp; Nacht" eintauschen würden, scheiden sich die Geister: "Die meisten finden das für zwei, drei Jahre ganz schön, würden dann aber in ihr altes Leben zurückkehren wollen."

Kritikern von "Scripted Reality" bereitet eine gewisse Zuschauerprägung Sorgenfalten. Das Marktforschungsinstitut Ipsos zeigte insgesamt 100 Zuschauern einen Ausschnitt aus der Pseudo-Doku "Die Schulermittler". 38 Prozent stimmten der Aussage zu: "Man weiß doch, dass solche Schulermittler sinnvoll sind! Es sollte mehr davon geben." Aber eben diese Schulermittler, wie RTL sie zeigt, gibt es gar nicht. Experten meinen: Wer die Szenen für echt hält, neigt dazu, die Welt aus der Sicht der Fernsehrealität zu beurteilen. Sie befürchten ein verzerrtes Bild von Menschen und Milieus.

Julia Britzl sieht die größte Gefahr "bei der Betrügerei in diesen Serien." Beziehungen bestehen aus Fremdgehen und sie hoffe nicht, dass Jugendliche meinen, so sieht das Leben aus, wenn sie mal erwachsen sind. "Dennoch würde ich diese Serien nicht nur negativ beurteilen", findet die 29-Jährige. Sie liefern soziale Themen, die teilweise durchaus realitätsnah seien. Das sei aber nur positiv, wenn man neutral darüber diskutiere. Und das erlebe sie bei ihren Schülerinnen durchaus: "Sie unterhalten sich darüber und versuchen, Lösungsvorschläge daraus umzusetzen."

Scripted Reality wie Fast Food
Wer sich nicht sicher ist, was er von "Scripted Reality" zu halten hat, kann es mit Fast Food vergleichen. Einfach zu konsumieren, manche finden es lecker, auf Dauer macht es dick. Ob und wie viel man davon isst, bleibt aber jedem selbst überlassen.

Auch bei "Mieten, kaufen, wohnen" (VOX) sind die Geschichten der Makler wie Denisé Freidhof (vorne) frei erfunden. (Bild: VOX/Fandango/MP)

Auch bei "Mieten, kaufen, wohnen" (VOX) sind die Geschichten der Makler wie Denisé Freidhof (vorne) frei erfunden. (Bild: VOX/Fandango/MP)