Bayern
So stirbt eine Straße mitten in der City
2. Mai 2023, 17:58 Uhr
München - Er steht jetzt manchmal selbst hinter der Kasse. Dabei kann er das gar nicht, sagt Norbert Kaltenbach. "So eine moderne Registrierkasse ist eine komplexe Sache." Der 63-Jährige hilft aus. Seit die roten Schilder im Schaufenster hängen, ist bei Jeans Kaltenbach viel Betrieb. Da müsse eben jeder dort anpacken, wo er gerade gebraucht wird.
Es ist nicht leicht für ihn, darüber zu reden. Die Gesichtsfarbe dunkelrot, presst er immer wieder die Lippen aufeinander im Gespräch. Er muss das Geschäft zumachen, das sein Vater vor 70 Jahren eröffnet hat. Schon mit 13 Jahren stand Norbert Kaltenbach im Geschäft und hat mit angepackt.
Von seinem Vater übernahm er den Laden in der Herzogspitalstraße, eine kleine Gasse direkt parallel zur Einkaufsmeile zwischen Marienplatz und Stachus. Mit Jeans Kaltenbach verliert die Innenstadt wieder ein Geschäft mit langer Tradition.
Läuft man die Straße entlang, wird schnell klar: Es ist nicht der einzige Verlust auf der Ecke Herzogspitalstraße und Eisenmannstraße. Schräg gegenüber von Kaltenbach, in einem Geschäft für Möbel, Lampen und Dekoartikel, kleben ebenfalls rote Schilder. Auch Judith Pawelke (44) wird in ein paar Wochen schließen. Und zwei Häuser weiter ist die Ladenfläche schon geräumt. Ein junges Paar habe hier viele Jahre einen Skaterladen betrieben, sagt Pawelke.
Sie fragt sich, wer das dann noch schön findet, wenn alle individuellen kleinen Geschäfte weg sind. "Da geht doch das Menschliche verloren und die ganze Abwechslung." Läden, in denen die Chefin persönlich hinter dem Tresen steht.
Wie kommt es, dass hier gleich drei Ladenbesitzer aufgeben? Und dass die, die noch da sind, immer verzweifelter werden?
Beim Räumungsverkauf bei Jeans Kaltenbach sind die drei Verkäuferinnen jetzt durchgehend in Beratungsgespräche verwickelt. Man wundert sich über die kleine Minibar mitten im Raum. "Bei uns hat eigentlich jeder Kunde ein Glas Wasser, einen Espresso oder einen Prosecco angeboten bekommen." 8000 Stammkunden habe er persönlich per Brief über die Schließung informiert, sagt Norbert Kaltenbach.
Jetzt steht eine Frau mit einer grauen und einer dunkelblauen Jeans an der Kasse. Sie kaufe schon ewig hier ein. "Die Mitarbeiterinnen haben einen angeguckt und wussten, welche Größe man braucht", sagt Claudia Muschler. Ein Kommentar, der auch immer wieder in den Google-Bewertungen des Jeansladens zu lesen ist. Für die 63-Jährige seien die "familiengeführten Geschäfte das Herzstück" in der Innenstadt. Die kleinen Läden sind das eine, sie vergeben zudem auch Aufträge an lokale Betriebe: an Handwerker, Bäcker, und Floristen.
Bei Jeans Kaltenbach beispielsweise hat ein Münchner Ladenbauer das ganze Mobiliar geschreinert und zwei Dekorateure aus München und Bad Tölz haben sich um die Schaufenster gekümmert.
Je nach Zusammensetzung einer Innenstadt ändert sich auch das Stadtbild: "Das hat München doch immer ausgemacht, die vielen individuellen kleinen Läden", sagt Ardeshir Rahmanian. Er führt in der Herzogspitalstraße das älteste Teppichhaus Münchens, wie er sagt, eröffnet 1950.
Auch Norbert Kaltenbach kann der Zusammensetzung in der Fußgängerzone nichts abgewinnen: "Wenn man da durchgeht, könntest du auch in jeder anderen Stadt sein."
Für die Geschäfte in zweiter Reihe ist das ein Problem. Denn die Ketten vorne ziehen ein anderes Publikum an: Touristen, Leute für Shoppingausflüge. Weniger Münchner und Leute aus dem Umland, die im Fachgeschäft etwas Bestimmtes suchen. Viele halten sich inzwischen lieber in attraktiven Stadtteilzentren auf; wie am Rotkreuzplatz, in Haidhausen oder rund um die Türkenstraße.
Das ist aber nur ein Aspekt der Schwierigkeiten, die sich zuletzt angehäuft haben. Da ist auch die allgemeine wirtschaftliche Lage nach Corona während der Energiekrise und Inflation: Einige der Händler rund um Kaltenbach sagen, dass ihre Ware im Einkauf teils doppelt so teuer geworden sei, andere berichten von verdoppelten Stromrechnungen. Aber alle sind sich darin einig, dass es auch am Verhalten der Kunden liegt. Sie seien bequem geworden. "Selbst die, die früher nur stationär eingekauft haben, haben in der Pandemie gelernt, wie man online bestellt", sagt Norbert Kaltenbach.
Auf Münchner Ebene heißt das Problem, wie häufig: die Mieten. Für Ladenflächen in der Innenstadt gilt das noch einmal besonders. "Es gibt Vermieter, die vor lauter Gier gar nicht genug kriegen", sagt Judith Pawelke von dem kleinen Möbel- und Dekoladen.
Zu all dem kommen die speziellen Probleme des Standorts: seit zehn Jahren Lärm, Kräne und Baggerschaufeln.
Im Erdgeschoss seines Skateshops steht Ricardo Friese. Der 42-Jährige hat vor 17 Jahren hier eröffnet und 2013 noch ein Café mit gemütlicher Sitzecke in seinen Laden integriert. Über seinem Schreibtisch im ersten Stock hängt eine Karte: "Probleme sind da, um zu zeigen, was man wirklich kann." Aber langsam wird es ihm zu krass. In zwei Jahren musste er sein Team von 17 Leuten auf zehn verkleinern.
Das hat viel mit dem Kran neben der kleinen Freischankfläche vor seinem Schaufenster zu tun. "Teilweise wackeln bei uns hier drin die Wände", sagt Friese. Der Lärm und Dreck halte die Kunden ab. Er ist enttäuscht von der Stadt: "Hier ist nie jemand vorbeigekommen und hat mal nachgefragt."
Das Kreisverwaltungsreferat habe trotz mehrfacher Anläufe nicht erlaubt, ein Hinweisschild in der Fußgängerzone aufzustellen, sagt Friese. "Wir wollten, dass die Leute sehen, dass es hinter dem Kran noch was zu entdecken gibt." Wie die anderen Geschäftsleute, mit denen man an diesem Nachmittag spricht, hat Friese das Gefühl, es sei der Stadt egal, wenn sie pleite gingen.
Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner (CSU) schiebt die Verantwortung auf Grün-Rot - und dessen Verkehrspolitik. "Wir haben es Leuten mit Auto in letzter Zeit extrem schwergemacht, zu uns zu kommen", sagt er. Das sehe man an der autofreien Sendlinger Straße.
Auf die Auswahl der Geschäfte in der Fußgängerzone habe die Stadt keinen Einfluss. Höchstens bei ihren eigenen Immobilien, wie dem Ruffinihaus oder dem Rathaus. "Eine Kette wie ein Douglas oder so ist da undenkbar", sagt er. Aber das andere gehöre privaten Vermietern. "Man kann höchstens über Genehmigung von Freischankflächen oder Schaufenstergestaltung ein wenig Einfluss nehmen."
Das klingt nicht nach der großen Rettungsstrategie. Wirklich helfen würde den Ladenbesitzern wohl eher ein verändertes Bewusstsein der Kunden. Weg vom ewigen Scrollen im Überangebot der Onlineshops und wieder zu den Orten, wo man ihre Konfektionsgrößen kennt. Für Jeans Kaltenbach ist es zu spät. Norbert Kaltenbach muss zusperren.
Ein trauriger Anlass, aber in den letzten Wochen halten sich die Kunden im Laden und auch online nicht mit Lob zurück. "Jeder, der denkt, dass er nie die passende Jeans findet, sollte da vorbeischauen."
Wieder schließt ein traditionsreiches Münchner Fachgeschäft direkt in der Innenstadt. Warum inhabergeführte Läden gerade besonders am Rudern sind