Bayern

Existenzangst und Euphorie: Wer freut sich über autofreie Sommerstraßen?

In vielen Vierteln wird derzeit diskutiert, welche Straßen diesen Sommer für Autos gesperrt werden sollen. Zum Beispiel in Sendling.Ein Rundgang zu Lokalpolitikern, Spaziergängern, Metzgern - und zumMr. Sommerstraße


Paul Birkl hat sein Geschäft nahe des Gotzinger Platzes seit 30 Jahren. Sein Sohn möchte es nicht übernehmen - wegen der Parkplatz-Problematik.

Paul Birkl hat sein Geschäft nahe des Gotzinger Platzes seit 30 Jahren. Sein Sohn möchte es nicht übernehmen - wegen der Parkplatz-Problematik.

Von Jakob Mainz

Sendling - Als das Wort Sommerstraße fällt, beginnt Moran Marom zu grinsen. Die 37-Jährige lebt seit neun Jahren in der Schöttlstraße - der Straße, die in den letzten beiden Jahren die Sommerstraße in Sendling war. Monatelang fast autofrei also. "Es gab einfach mehr Platz fürs Leben! Die Leute waren nicht mehr so isoliert", schwärmt Moran Marom, die halbtags im Marketing eines Finanzunternehmens arbeitet und halbtags Mutter ist. Besonders gerne erinnert sie sich an die Abende mit Livemusik. Sogar eine Sommerstraßen-Whatsapp-Gruppe wurde gegründet, um sich auszutauschen, ob es auch dieses Jahr wieder klappt mit dem wunderbaren "Schöttlsommer."

Schöttlstraße

Das liegt jetzt in den Händen von Mobilitätsreferat und Bezirksausschuss. Der hatte sich zuletzt auf drei Favoriten festgelegt: die Straße um den Gotzinger Platz, die Schmied-Kochel-Straße (beide nahe der U-Bahn-Station Implerstraße) und eben die Schöttlstraße in Mittersendling. Jetzt berät das Mobilitätsreferat über seine Empfehlung. Anschließend wird der Bezirksausschuss endgültig entscheiden. Was dabei für die Schöttlstraße spricht? Ganz einfach: die Erfahrung der letzten beiden Sommer. Hier funktioniert die Idee offensichtlich.

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Wenig Platz für Fußgänger: Die Schmied-Kochel-Straße in Untersendling ist einer von drei Kandidaten für die Sendlinger Sommerstraße.

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Arbeit am Gotzinger Platz: Alexander Felbermeier ist Tierbetreuer.

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Absoluter Sommerstraßen-Fan auch im Winter: Anwohnerin Moran Marom in der Schöttlstraße.

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Die Straße um den Gotzinger Platz wurde vom Bezirksausschuss als Favorit auserkoren. Entschieden wird bis Ende März.

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Markus Lutz, der Bezirksausschusschef von Sendling, in der Schöttlstraße.

Das sieht auch Markus Lutz so. Der SPD-Mann ist Bezirksausschusschef von Sendling und damit maßgeblich an der Entscheidungsfindung beteiligt: "Die Idee der Sommerstraße ist, mit wenig Veränderungen mehr Lebensqualität zu schaffen. Es geht auch darum, den Leuten die Angst zu nehmen", erklärt Lutz, als die AZ ihn in der Schöttlstraße trifft. Trotzdem: Alle Anwohner werde man nie zufrieden stellen können, räumt Lutz, der Sommerstraßen-Fan, ein. "Jemanden, für den das Auto das Wichtigste ist, wird schwer zu überzeugen sein." Klar ist aber auch: Der Schaden für Geschäfte, denen mit den Parkplätzen in der Straße Kunden wegzufallen drohen, solle minimiert werden.

Warum die Schöttlstraße so gut funktioniert hat? Weil es hier keine Anwohnerparkzone gibt, sagt Lutz. Viele der Autos hier kämen eh von außerhalb. Und haben sich im Sommer dann einen Parkplatz in einer Nebenstraße gesucht. So entstand unter den Nachbarn nicht so viel Ärger wie in Straßen, in denen sehr viele Parkplätze normalerweise von Anwohnern belegt werden.

Schmied-Kochel-Str.

Zwar trifft die AZ Markus Lutz in der erfolgsgekrönten Schöttlstraße. Sein persönlicher Favorit aber, das ist die Schmied-Kochel-Straße. Die Straße liegt zwischen der Lindwurmstraße und der Implerstraße, eine ruhige Seitenstraße zwischen den verkehrsumtosten Ausfallstraßen. Die Einbahnstraße ist relativ breit, für Fußgänger ist trotzdem wenig Platz, der Bürgersteig ist eng.

Die Sommerstraßegefährdet unsere Firma

Auch Grün ist kaum zu sehen. Deswegen plädierte Lutz für diese Straße: "Wir haben schon oft Anfragen aus der Straße nach mehr Grün bekommen. Das geht aber schlecht, weil unterirdisch dort so viele Leitungen verlaufen", erklärt Lutz. "Deswegen habe ich für die Schmied-Kochel-Straße gestimmt. Es geht ja auch darum, die Sommerstraßen dort zu machen, wo sie viel Wirkung haben können."

Harald, ein 60-jähriger Chemiker und Anwohner in der Schmied-Kochel-Straße würde die Idee begrüßen: "Das wäre klasse! Die Zukunft der Stadt ist autolos!", sagt er, während er Einkäufe in seinen Dienstwagen lädt. Den würde er zur Not auch woanders parken.

Ganz anders sieht das Ludwig Schelkopf. Er ist Inhaber der Großmetzgerei Schelkopf, die in der Schöttlstraße nicht nur einen Verkaufsladen hat, sondern auch eine Produktion - genau das wäre das Problem: "Wenn es nur um uns ginge - okay. Aber wie beliefern ja auch andere Läden."

Jeden Tag wird hier in großem Stil angeliefert - und jeden Tag liefert die Metzgerei selbst von hier aus in großem Stil Fleisch und Wurst aus. Viel Verkehr. "Und mit einer Sommerstraße, hätten unsere Lieferwagen massivste Probleme."

Üblicherweise werden in einer Sommerstraße Blumentröge von der Stadt aufgestellt - das würde die besonders breiten Lieferwagen beim Rangieren behindern. "Und Wenden ist für die meisten Wagen nicht mal theoretisch eine Option", erklärt Schelkopf. "Ich hätte in dem Fall wirklich Sorge um den Fortbestand unserer Firma."

Gotzinger Platz

Der Gotzinger Platz gleich bei der Großmarkthalle gilt im Bezirksausschuss bisher als Favorit. Die Idee wäre: die Grünanlage in der Mitte des Platzes mit einer sie umrundenden Sommerstraße zu verbinden.

Hier gehen die Meinungen auseinander: Einerseits ist da Alexander Felbermeier (36) ein mobiler Tierbetreuer, der gerade bei der Arbeit ist und am Gotzinger Platz spazieren geht: "Es vergehen keine zwei Wochen, ohne dass wir beide hier nicht fast über den Haufen gefahren werden", erklärt er und zeigt auf seinen vierbeinigen Kollegen.

Auch der Mitarbeiter in der hippen Saluki-Pizzeria am Platz würde die Entscheidung begrüßen: "Es ist richtig, die Stadt langsam von Autos zu befreien. Ich befürchte nicht, dass weniger Kunden kommen. Und sonst würde ich sagen: Umwelt vor Geschäft!"

Anderseits ist da Paul Birkl. Seit 30 Jahren hat er ein Baufachgeschäft in der Nähe des Platzes. Bald will er es seinem Sohn übergeben. Wenn da nicht das Parkplatz-Problem wäre. "Schon jetzt brechen uns die Kunden weg, weil es hier zu wenig Parkplätze gibt. Mein Sohn sagt, er will das Geschäft nicht übernehmen. Die Parkplatzproblematik ist der Hauptgrund", erzählt er. "An sich mag eine Sommerstraße ja schön sein", sagt Birkl, aber: "Es funktioniert nicht! Es ist nicht zu Ende gedacht!" Seine Grundfrage: "Wohin mit den Autos?"

Die Meinungen in Sendling also sind gespalten. Bleibt die Frage, warum es an der Schöttlstraße so gut funktioniert hat. Hört man sich in der Straße um, kommt man schnell auf einen weiteren Grund: Offenbar ist es wichtig, dass Menschen vor Ort aktiv mitziehen. Und hier war das besonders Robert Höpler, den manche gar als Mr. Sommerstraße bezeichnen.

Er hat sein Büro in der Schöttlstraße, direkt gegenüber seine Wohnung. "Mein ganzer Aktionsradius ist hier." Eines Tages während der Sommerstraßenzeit hatte er sein Büro zu einem Kiosk umfunktioniert - und so das Projekt ins Rollen gebracht. "Ich erinnere mich an drei Damen aus der Straße, die regelmäßig zu unseren ‚Kiosk' kamen und irgendwann gesagt haben: "So das ist jetzt unsere Sommerresidenz."


Und wie seine Nachbarin Moran Marom erinnert sich auch Höpler besonders an die gemeinsamen Musikabende in der Schöttlstraße, draußen vor den Wohnungen: "Irgendwann hat jemand ein Grammophon aufgestellt und dann gab es Abendessen." Es klingt, als schwärme er von seinem Urlaub. Dabei erzählt er nur aus seiner Straße, seiner Sommerstraße.

HORIZONTALE LINIE

Straßenraum mal anders nutzen - so könnte man die Idee der Sommerstraßen zusammenfassen. Für meist zwei bis drei Sommermonate werden ausgewählte Straßen dann verkehrsberuhigt: Fußgänger und Radfahrer dürfen ebenfalls auf die Fahrbahn und haben Vorrang vor Autos, für die Schrittgeschwindigkeit gilt. Zusätzlich stellt die Stadt Stühle und Blumentröge bereit, die Anwohner und Passanten zum Verweilen einladen sollen. Es gibt auch die Möglichkeit, eine Sommerstraße zur Spielstraße zu machen. Dann dürfen gar keine Autos in der Straße fahren oder parken. Die erste Sommerstraße gab es 2019 am Alpenplatz in Obergiesing - seitdem wurde das Projekt jährlich fortgesetzt. Im letzten Jahr gab es in München neun Sommerstraßen, zwei davon als Spielstraßen. Der Bezirksausschuss prüft in Umfragen, welche Straßen im jeweiligen Viertel in Betracht kommen. Die endgültige Entscheidung trifft der Bezirksausschuss dann nach Rücksprache mit dem Mobilitätsreferat.