Bayern

(Alb-)Traum Fußgängerzone: In Haidhausen freut sich nicht jeder

Die Weißenburger Straße soll autofrei werden. Doch während Rot-Grün von seinem Vorhaben schwärmt, fürchten Ladenbesitzer den wirtschaftlichen Ruin. Ein Blick hinterdie Kulissen


Anonyme Kritik an Politikern ist in Haidhausen keine Seltenheit.

Anonyme Kritik an Politikern ist in Haidhausen keine Seltenheit.

Von Julia Wohlgeschaffen

Haidhausen - In Haidhausen treibt ein wütender Bürger sein Unwesen. Das ganze Viertel hat er tapeziert, mit weißen Din-A4-Flugblättern.

Schwarz gedruckte Buchstaben reihen sich darauf aneinander, 20 polemische Sätze hat der Unbekannte in bestem Deutsch formuliert.

Die Botschaft, die auf den SPD-Plakaten rund um den Weißenburger Platz klebt, ist eindeutig.

"Hören Sie endlich auf mit Ihrer radikalen, skrupellosen, ideologischen und Autofahrer mobbenden Verkehrspolitik!", schreibt der anonyme Autor und richtet sich mit seiner Kritik vor allem gegen eine: die SPD-Fraktionsvorsitzende Anne Hübner.

Und Anne Hübner antwortet. Handschriftlich. Die Politikerin wirkt gelassen, als sie erzählt, wie sie einen Stift zückte und "Stimmt nicht" samt lieben Grüßen direkt auf eines der Flugblätter schrieb.

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Anonyme Kritik an Politikern ist in Haidhausen keine Seltenheit.

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Getränke werden hier mit einem Lastenrad ausgefahren.

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Anne Hübner vor einem ihrer liebsten Cafés am Weißenburger Platz: der Ideal Espresso Bar

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In einem Bildband über verlassene Orte möchte Thomas Voglgsang seine Buchhandlung nicht sehen.

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Toben wie das Kind rechts in der Simulation kann man in der Weißenburger Straße bisher nicht.

Es ist die geplante Fußgängerzone in der Weißenburger Straße, die einen Unbekannten in Haidhausen so verärgert. Den Antrag stellte die grün-rote Rathaus-Koalition im November, durch die autofreie Zone zwischen dem Weißenburger und dem Pariser Platz soll die Aufenthaltsqualität verbessert werden.

Ziel ist es, das Vorhaben bereits im Sommer dieses Jahres umzusetzen - und ein Vorbild für weitere Stadtviertel zu werden.
Anne Hübner gehört zu den Antragsstellern. Die Politikerin lebt seit über zehn Jahren mit ihrer 13-jährigen Tochter in Haidhausen. "Ich wohne wahnsinnig gerne hier", sagt sie. Zum Beispiel, weil der Bezirk so fußgängerfreundlich ist. Und Anne Hübner geht gern zu Fuß. Sie hat auch gar kein Auto.

Wenn die Frau mit dem dunklen, schulterlangen Haar durch die Weißenburger Straße schlendert und von den geplanten Veränderungen erzählt, leuchten ihre Augen. Sie denkt an mehr Sitzgelegenheiten, an kleine Blumenbeete, an Brunnen. "Es soll eine Straße für Nachbarn werden", sagt sie.

Im Moment drängen sich hier Frauen mit Kinderwagen, Hundehalter samt tierischer Begleitung, Senioren mit Einkaufstaschen und flanierende Schaufenster-Gucker aneinander vorbei oder weichen dem schwarzen Toyota aus, der mitten auf dem Gehweg hält. Auf einen Betonklotz am Straßenrand, der zu einer Baustelle gehört, hat jemand "Grüne weg" gekritzelt. Anne Hübner lächelt darüber nur müde und spaziert gelassen daran vorbei. Anonyme Kritik an Politikern scheint in Haidhausen dazuzugehören.

Der Getränkemarkt in der Weißenburger Straße 28 kommt ohne Auto aus. Vor den sorgfältig nebeneinander aufgereihten Bierflaschen im Ladenfenster steht ein Lastenrad, mit dem Bestellungen ausgeliefert werden.

Ein paar Meter weiter nimmt Anne Hübner ihre Hand aus der Jackentasche und zeigt auf die andere Straßenseite, zu den parkenden Autos. TUT, K, KU, DAH steht da auf den Nummernschildern. Tuttlingen, Köln, Kulmbach, Dachau. "Die Notwendigkeit, dass die hier stehen müssen, erschließt sich mir nicht", sagt Hübner und wirkt bei dem Gedanken an die autofreie Zone sehr zufrieden.

In der Weißenburger Straße 14 hingegen ist von Zufriedenheit nichts zu spüren. Hinter der Fensterscheibe, in der Buchhandlung Buch & Töne, schaut der Mann, schwarzer Pulli, schwarzer Schal, voller Sorge hinaus auf die Straße. Es ist Thomas Voglgsang, der Inhaber, dem der Kummer so deutlich ins Gesicht geschrieben steht.

Vor dem großen Schaufenster liegen große Bildbände und Kochbücher auf einem Tisch neben den Kartenständern. Eine Frau stöbert interessiert in einem schwarz-weißen Fotoband. Neben ihr kann es ein Kind kaum erwarten, das Geschäft endlich zu betreten, und hüpft aufgeregt auf und ab.

Den Laden, in dem sich die Bücher bis zur Decke stapeln, führt der wortgewandte Mann mit der runden Brille auf der Nase schon seit 2005. Er arbeitet hier sechs Tage die Woche, von Montag bis Samstag, immer von neun bis neun. Im Hintergrund dudelt unaufdringlich Jazz-Musik aus den Lautsprechern. Bunte Reiseführer, Romane und Biografien füllen die Regale. Alles ist farbenfroh, alles hat seinen Platz, alles ist schön anzusehen. Nur nicht das, was sich vor seinem Geschäft abspielt.

Hier beobachtet Thomas Voglgsang oft tumultartige Szenen. Fahrradfahrer und Autofahrer beschimpfen sich vor seiner Ladentür ständig und stoßen zusammen. Es scheint nicht genug Platz für alle auf der Straße zu geben.

Zum Beispiel an der Baustelle nebenan, an der ein Auto gerade noch vorbeikommt, so eng ist die Straße dort. Voglgsang findet das lebensgefährlich. Eine Veränderung der Verkehrssituation befürwortet er also. Teilweise.

"Warum denkt man nicht an eine Einbahnstraße? Warum muss es gleich Bullerbü sein?", fragt er. Die Vorstellung von einer Fußgängerzone bereitet Voglgsang sichtlich Sorgen.

Von einem Kollegen aus der Sendlinger Straße weiß er, dass er deutlich weniger Umsatz macht, seit es die Fußgängerzone dort gibt. Die Passanten laufen laut dem Buchhändler nämlich nicht mehr an den Schaufenstern vorbei, sondern verteilen sich auf der ganzen Straße.

Außerdem könnte eine Fußgängerzone höhere Mieten mit sich bringen. Doch die Krisen der letzten Jahre haben Spuren in der Weißenburger Straße 14 hinterlassen. "Ich bin vollkommen am Limit dessen, was ich an Miete bezahlen kann. Wenn die Mieten noch mal steigen, gehen die Lichter hier in den Läden aus", sagt Voglgsang.

Dabei liebt Thomas Voglgsang, Jahrgang 1970, seinen Beruf. Wenn er davon erzählt, lebt er auf, er schaut nicht mehr so ernst drein, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus. "Mit Büchern kann man alleine sein, aber man ist nicht einsam. Wenn man keinen Freund mehr auf der Welt hat, hat man noch seinen Buchhändler." Die blonde Kundin, die gerade hinter ihm in einem Kinderbuch geblättert hat, lacht und stimmt ihm zu. Ungefähr alle drei Minuten ruft jemand seinen Vornamen. Man kennt "Thomas" in Haidhausen.

"Gäb's hier ein Dschungelcamp, wär' ich wahrscheinlich drin", sagt er lachend. Auf Anne Hübner trifft das wohl auch zu.

Begegnet sind sich die beiden bisher allerdings noch nicht, doch das wird sich vermutlich demnächst noch ändern. Zwar bestimmt nicht beim Dschungelcamp, aber bei einer geplanten Bürgerversammlung zur autofreien Zone. Denn Hübner möchte nicht über die Köpfe der Menschen in Haidhausen hinweg entscheiden.

Bis dahin schlendert sie also weiterhin gelegentlich durch ihre Weißenburger Straße. Manchmal wird sie dabei von Passanten begrüßt. Manchmal kommt sie mit ihren Nachbarn ins Gespräch. Und manchmal trifft sie auch wieder ein Blick voller Sorge.

Es soll eine Straße für Nachbarn werden

Warum muss es gleich Bullerbü sein?