Aktionäre wollen Schadenersatz
Wirecard-Musterprozess beginnt mit Watschn - für ein Gericht
22. November 2024, 4:00 Uhr
Viereinhalb Jahre nach der Wirecard-Pleite verhandelt das Bayerische Oberste Landesgericht an diesem Freitag stellvertretend für eine Lawine von Schadenersatzforderungen die Musterklage eines hessischen Aktionärs. Das Musterverfahren steht quasi stellvertretend für insgesamt 8.500 Klagen von Anlegern des Finanzdienstleisters. Zusammen fordern sie 750 Millionen Euro Wiedergutmachung für ihre Kursverluste. Wegen des erwarteten großen Andrangs hat der 1. Zivilsenat des höchsten bayerischen Gerichts die Verhandlung in die Wappenhalle des ehemaligen Flughafens München-Riem verlegt, die eigentlich als Veranstaltungsort für Konferenzen oder Partys dient.
An erster Stelle einer Liste von insgesamt elf Beklagten steht der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun, auf dem zweiten Platz die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. Letztere ist die eigentliche Zielscheibe der Schadenersatzforderungen. Denn der einstige Milliardär Braun hatte den größten Teil seines Vermögens in Wirecard-Aktien angelegt. Dementsprechend erlitt Braun durch die Wirecard-Pleite selbst horrende Verluste. Braun hat von Beginn an sämtliche Vorwürfe bestritten, EY weist die Schadensersatzklagen als unbegründet zurück.
Geschädigte Anleger können dann auf Entschädigung hoffen, wenn sie wegen vorsätzlich falscher Informationen die jeweiligen Aktien kauften. Im Fall Wirecard waren es die mutmaßlich frei erfundenen Gewinne in den Bilanzen des Konzerns - mehrmals bestätigt durch die Abschlussprüfer von EY. Erst im Jahr 2020 verweigerten die Prüfer das Testat für die Wirecard-Bilanz des Vorjahres.
Das zivilrechtliche Musterverfahren läuft parallel, aber getrennt vom Wirecard-Strafprozess, in dem Braun seit knapp zwei Jahren als Hauptangeklagter unter Betrugsverdacht vor Gericht steht. Das Musterverfahren soll die rechtliche Aufarbeitung der Schadenersatzforderungen vereinfachen und beschleunigen. Denn solange das Musterverfahren andauert, sind die übrigen Klagen ausgesetzt. Sonst müssten alle 8.500 Klagen vom Landgericht München I separat verhandelt und entschieden werden.
Das Urteil im Musterprozess wird aber nicht automatisch die Entscheidung über alle 8.500 Klagen bedeuten, sondern wird als eine Art Blaupause für die übrigen Verfahren dienen. Abgesehen von den 8.500 Klägern haben noch 19.000 weitere Wirecard-Anleger Forderungen bei Gericht angemeldet.
Das bedeutet jedoch nicht, dass das Musterverfahren eine kurze Angelegenheit werden wird. Das Oberste Landesgericht geht davon aus, dass wegen der Komplexität des Verfahrens eine mehrjährige Dauer unvermeidlich sein wird, wie ein Sprecher mitteilte. Musterklägeranwalt Peter Mattil ist vergleichsweise optimistisch und schätzt, dass ein Urteil in erster Instanz bereits in drei Jahren ergehen könnte.
Anleger können dann auf Entschädigung hoffen, wenn sie wegen vorsätzlich falscher Informationen die jeweiligen Aktien kauften. Im Fall Wirecard waren es die mutmaßlich frei erfundenen Gewinne - mehrmals bestätigt durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. An erster Stelle der "Musterbeklagten" steht der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun, gefolgt von EY auf Rang 2. Die Stimmung der Aktionäre schwanke "zwischen Wut und immer noch Aggression und Resignation", sagte am Rande der Verhandlung Daniela Bergdolt, Anwältin und Vizepräsidentin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.
Das Musterverfahren soll die Aufarbeitung beschleunigen, da das Landgericht München I ansonsten alle 8500 Klagen einzeln abarbeiten müsste. Das Bayerische Oberste Landesgericht soll dabei grundsätzlich entscheiden, ob die Aktionäre Anspruch auf Schadenersatz haben. Die vom Landgericht vorgelegten Feststellungsziele sind der Katalog der Vorwürfe gegen Wirecard und EY, die im Musterverfahren geprüft werden sollen.
Die Senatsvorsitzende Schmidt kritisierte, dass das Landgericht diese Punkte viel zu allgemein formuliert habe - es darf nach Worten der Richterin nicht unklar bleiben, welche Informationen im Einzelnen falsch gewesen sein sollen. "Es fehlt jegliche Konkretisierung."
Der Zahlungsdienstleister war im Jahr 2020 zusammengebrochen, weil angeblich auf philippinischen Treuhandkonten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren. Das Geld wird bis heute vermisst. Gegen EY richtet sich der Vorwurf, die mutmaßlich falschen Wirecard-Bilanzen nicht ordentlich geprüft zu haben. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sieht hingegen keine Grundlage für Schadenersatzansprüche.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die geschädigten Aktionäre die Hoffnung auf Schadenersatz fahren lassen müssen. Musterkläger-Anwalt Mattil hat auf 800 Seiten einen eigenen Katalog von Feststellungszielen vorbereitet, die das Gericht abarbeiten wird. Ein Urteil wird frühestens in einigen Jahren erwartet. Ein Aktionär - und in dessen Gefolgschaft aus der Ferne auch der persönlich nicht anwesende Musterkläger - beantragten, das Verfahren dem Münchner Oberlandesgericht (OLG) zu übertragen.
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