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Tim Henman im AZ-Interview: "Djokovic ist der Turnierfavorit"

Zum Start der Australian Open spricht der ehemalige Top-10-Spieler Tim Henman in der AZ über den Generationenwechsel an der Spitze des Tenniszirkus' und Alexander Zverevs immensen Trainerverschleiß.


"Derzeit der weltbeste Spieler": Novak Djokovic.

"Derzeit der weltbeste Spieler": Novak Djokovic.

Von Thomas Becker

AZ-Interview mit Tim Henman: Der ehemalige britische Tennis-Star (48) ist für Eurosport als Experte bei den Australian Open dabei.

AZ: Mister Henman, die Australian Open waren nicht gerade Ihr erfolgreichstes Turnier. Bei den drei anderen Grand Slams haben Sie jeweils das Halbfinale erreicht, in Melbourne war immer spätestens in Runde vier Schluss. Was war da los?

TIM HENMANN: Das war in der Tat enttäuschend. Das hätte von der Symmetrie her schon besser ausgesehen: Halbfinale bei allen Grand Slams. Dabei habe ich meinen ersten ATP-Titel in Sydney gewonnen, war Turniersieger in Adelaide, ich mochte die Bedingungen, die Plätze, alles. Aber wenn ich so zurückschaue auf diese verlorenen Matches in Runde vier: Ich habe oft schlecht gespielt. Viele Spiele hätte ich nicht verlieren müssen. Diese Matches würde ich gern nochmal spielen!

Tim Henman

Tim Henman

Spielen Sie noch auf der Senior Tour?

Nein, nicht mehr. Ich hatte ein paar OPs am Ellbogen, und wenn ich aufschlage, tut der immer noch weh.

Weh getan hat unlängst auch der Abschied von Roger Federer, bei Ihnen daheim in London. Haben Sie auch ein paar Tränen vergossen?

Nein, aber es war großartig, dort zu sein. Diese Atmosphäre: unglaublich! Wir haben oft gesehen, dass er weint, wenn er gewinnt oder verliert - wir wussten also, dass es emotional werden würde. Ich empfand es eher als eine Feier. Er hatte die absolut unglaublichste Karriere, ich habe öfter gegen ihn gespielt und darf ihn einen sehr guten Freund nennen.

Wissen Sie, ob er bei den Australian Open sein wird?

Ich glaube nicht. Aber er wird demnächst sicher wieder mit Tennis zu tun haben, und das ist eine gute Sache.

Neben Federer saß an diesem denkwürdigen Abend sein Weggefährte Rafael Nadal. Was trauen Sie dem Spanier bei den Australian Open zu?

Es ist eine schwierige Zeit für ihn. Er hat in diesem Jahr noch nicht viele Wettkampfmatches bestritten, hat sich bei den ATP Finals gequält und nun beim Nations Cup gegen Cameron Norrie verloren. Er spielt noch nicht sein bestes Tennis. Auch ein Champion wie Nadal braucht dieses Wettkampf-Umfeld. Jetzt muss er in Runde eins gegen den jungen Briten Jack Draper ran: Das ist ein Match, auf das ich mich wirklich freue.

Der letzte aus der Runde der großen Drei macht dagegen einen ziemlich starken Eindruck: Novak Djokovic.

Er ist zwar nur an vier gesetzt, für mich aber derzeit der weltbeste Spieler. Was vor einem Jahr in Australien geschah, war keine schöne Geschichte, weder für Novak noch für die Australian Open noch für das Tennis. Bei den Grand Slams will man die besten Spieler gegeneinander spielen sehen. Djokovic hat mit seinem Sieg in Adelaide schon mal ein Zeichen gesetzt. Für mich ist er der Turnierfavorit.

Die Nummer eins fehlt in Melbourne verletzt: Carlos Alcaraz.

Was er im letzten Jahr erreicht hat, war unglaublich. Ich habe ihn in Miami gesehen, als er sein erstes Masters gewann. Sein Sieg bei den US Open und die Tatsache, dass er zur jüngsten Nummer eins wurde, zeigt, wie gut er gespielt hat. Aber: Djokovic hat viel verpasst, hat keine Punkte für seinen Wimbledon-Sieg bekommen (da russische Spieler ausgeschlossen waren, wurden keine Punkte vergeben, Anm. d. Red.) - es war eine ungewöhnliche Situation. Schade, dass Alcaraz nicht in Melbourne spielt, aber er hat noch viele Gelegenheiten vor sich.

Sprechen wir noch über Alexander Zverev. Wie ist Ihr Eindruck von ihm?

Er hat eine sehr gute Karriere, große Titel gewonnen, stand im US Open-Finale, aber ich glaube, man kann sagen: Da kommt noch mehr. Wie viel? Das hängt von seiner Haltung ab - und von seinem zweiten Aufschlag. Das hängt zusammen. Er kommt nun zurück von einer fürchterlichen Verletzung, aber wenn er gesund ist, ist er zu gut, um nicht wieder ganz vorn mitmischen zu können.

Hat dieses Problem mit der Haltung auch mit den häufig wechselnden Trainern zu tun?

Von außen betrachtet: Er hat mit Ivan Lendl gearbeitet, mit Juan Carlos Ferrero, mit Sergi Brugera, da ist sein Vater, sein Bruder - in meinen Augen muss er selbst Verantwortung übernehmen. Er muss da raus gehen und das für sich machen. Wenn ich seinen zweiten Aufschlag sehe: Mal schlägt er den mit 70 Meilen auf, mal mit 130. Das ist ein Verteidigungsmechanismus, er nimmt die Challenge nicht wirklich an. Wenn du ein solches Problem mit deinem zweiten Aufschlag hast, dann hat das auch einen Effekt auf andere Teile deines Spiels. Manchmal schlägt er aber auch mit 140 Meilen auf, mit einer 80-Prozent-Quote! Es ist also eher eine mentale Herausforderung.