Straubing
Leben im Hier und Jetzt
30. Dezember 2018, 8:00 Uhr aktualisiert am 6. April 2023, 10:17 Uhr
Jeden Tag bis zum Jahresende veröffentlicht die Lokalredaktion des Straubinger Tagblatts einen ihrer Lieblingstexte aus dem Jahr 2018. Redaktionsleiterin Monika Schneider-Stranninger berichtet in ihrem Artikel von einem Tag auf der Palliativstation - zwischen Hoffen, Bangen und Abschieden.
Ein Mittwoch-Vormittag. Visite. Eine Patientin sitzt am Bett. Gerade hat sie gegessen. Das Tablett noch vor sich, mit klarer Suppe, Reis und Brokkoli, Apfelkompott. "Wie wünschen Sie sich, dass es nach dem Aufenthalt bei uns weitergeht?" fragt Dr. Maximilian Meßmann. "Meine Schwiegertochter nimmt sich Urlaub und kümmert sich um mich", sagt die Frau. 87 Jahre ist sie alt. "Das ist schön", sagt der Oberarzt, "aber jeder Urlaub geht mal zu Ende"... - "Sie lässt sich beurlauben, ihr Arbeitgeber kommt ihr sehr entgegen", präzisiert die zierliche alte Dame und dann schickt sie hinterher, "so lange lebe ich ja auch nicht mehr". Ein Gänsehautmoment, besonders für jemanden, für den der tägliche Umgang mit Krankheit und Sterben ein Ausflug in eine andere Lebenswelt ist. Sie sagt es ganz ohne Bitterkeit. Vor vielen Jahren ist sie dem Tod schon von der Schippe gesprungen, erzählt sie. Da hatte sie schon einmal Krebs. Es war sehr ernst. "Ich bin so dankbar, dass mir, ganz anders, als es damals aussah, so viel Zeit geschenkt wurde." Jetzt ist der Krebs zurück. Unerwartet. Unerwartet aggressiv. Sie ist dennoch zufrieden, wie es ihr an diesem Tag geht. "Es tut mir hier so gut. Ich werde so gut versorgt", schwärmt sie. Mit "hier" meint sie die Palliativstation am Klinikum St. Elisabeth. Bald wird ihre Schwiegertochter sie abholen. Nach Hause.
Zehn Betten hat die Station. Alle sind belegt. An diesem Tag sind es neun Krebspatienten und eine Frau, die an ALS (Amyotrophe Lateral-sklerose, eine unheilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems) leidet. Patienten mit onkologischen Erkrankungen dominieren, aber Aufnahmen wegen neurologischer, internistischer und geriatrischer Erkrankungen steigen kontinuierlich.
Gleich am Morgen sitzen Leiterin Dr. Carmen Müller, Oberarzt Dr. Maximilian Meßmann und Ärztin Dr. Kristina Graf mit den Schwestern im Besprechungsraum. Sie rekapitulieren die vergangene Nacht. Die Rede ist von Medizinischem - von Atemnot, Übelkeit, Ödemen, nicht mehr schlucken können, von Medikamenten, von Strohhalmen und Varianten der Lagerung - und von allzu Menschlichem wie der Lust auf einen Schluck Bier. Und die Rede ist davon, was an diesem Tag bei jedem einzelnen Patienten zu tun und was zu organisieren ist.
In ein Hospiz entlassen
Zwei Malteser schieben eine Trage durch den Flur. Ein Patient wird entlassen, ihn begleitet der mutmachende Zuruf einer Schwester, "Alles Gute". Er zieht um in ein Hospiz.
Zu organisieren ist viel auf der Palliativstation. Ambulante Dienste, Hospiz- und Heimplätze, Briefe an Hausärzte... für die Zeit nach der Entlassung. Denn "eine Palliativstation ist keine Einbahnstraße", sagt Dr. Carmen Müller. Deshalb sei es wichtig, Palliativmedizin möglichst früh bei einer unheilbaren Erkrankung zu integrieren. "Eine frühe Kontaktaufnahme bedeutet oft mehr Lebensqualität." Die Patienten können so stabilisiert werden, dass es daheim mit entsprechender Hilfe, Pflegediensten oder Ambulanter Spezialisierter Palliativversorgung (SAPV) Pallidomo wieder eine Zeit gut weitergehen kann. Manche kommen mehrmals, um belastende Symptome in Schach zu halten. So, dass sie auszuhalten oder auszublenden sind. "Das sind unsere Erfolgserlebnisse", sagt Dr. Carmen Müller, genauso wenn ein Patient sagt, dass er die Station als wohltuenden Ort der Ruhe empfunden hat. Sie gibt zu, dass sie sich manchmal erlaubt, ein Schicksal mit nach Hause zu nehmen. Jene junger Patienten. Oder jener, die sie persönlich kennt. Und sie kann auch verstehen, dass Patienten als erstes einmal Angst haben, wenn es heißt, sie sollen auf die Palliativstation verlegt werden.
Alle Bemühungen von Ärzten und Pflegekräften müssen akribisch dokumentiert werden. Immer mehr, bedauert Dr. Carmen Müller. Die Gesundheitsreformen sind offensichtlich auch bei der Palliativmedizin angekommen. Zeit, die man lieber am Bett des Patienten verbringen würde, sagt die leitende Ärztin. Und doch scheint die Station, schon wenn man sie betritt, wie eine Oase in der Krankenhaushektik. Es ist leiser. Keinerlei Hektik. Es riecht gut. Gar nicht nach Krankenhaus. Es ist farbig. "Man spürt, dass das Klima hier stimmt", formuliert es eine Patientin, die mit fortgeschrittener Krebserkrankung auf einer anderen Station wegen ihrer Schmerzen palliativmedizinisch begleitet wird. Sie ist zum zweiten Mal da. "Ich fühle mich gut aufgehoben", sagt sie. "Diese Station ist ein Glücksfall für alle Krebskranken in Straubing." Sie schätzt es, dass in sachten Schritten vorgegangen wird. "Medikamente werden in ganz kleinen Dosen angepasst, die Pflege ist aufmerksam, aber unaufdringlich." Eine Schwester hat ihr vor kurzem die Füße massiert und eingecremt. "Es war so wohltuend und sie hat geschafft, mich damit von meinen Schmerzen abzulenken." Dass sie sich gut aufgehoben fühlt, ist auch ihrem Mann wichtig, genauso wie die Begleitung der ganzen Familie. Er spricht "fast von Erholungstagen in der Krankheit". Allerdings, das gibt er freimütig zu, hat er selber erst lernen müssen, dass eine Palliativstation etwas anderes ist als ein Hospiz. "Damit", gibt er zu, "will man nichts zu tun haben - noch nicht."
Eine Warteliste
Nur wenige Stunden später ist das Bett im Zimmer des Mannes, der gerade entlassen wurde, schon wieder belegt. Es gibt eine Warteliste. Diese im Auge zu behalten, gehört auch zu den täglichen Aufgaben von Dr. Carmen Müller. Sie telefoniert, sucht wie ihre Kollegen Patienten in anderen Stationen des Hauses auf. Denn auch außerhalb der Station, die nun mal auf zehn Plätze begrenzt ist, kann man palliativmedizinisch begleitet werden. Zu mindestens 500 Konsilen pro Jahr (so nennt man es, wenn ein Arzt zu einem Fall mit seinem speziellen fachlichen Rat hinzugezogen wird), ist ein Palliativmediziner hausintern gefragt. Damit jungen Ärzten, die neu ins Haus kommen, das Konzept der Palliativmedizin, die Gesichter, die dahinterstecken, und die Station selbst von Anfang an ein Begriff sind, trifft sich Dr. Carmen Müller mit ihnen an diesem Tag wie regelmäßig alle paar Wochen. Sie beantwortet ihre Fragen. Die vergangenen Jahre hat sie viele Vorträge bei Vereinen, Gruppen, Kirchengemeinden gehalten. Sie ist froh über den Effekt: Viele Menschen in der Region wüssten heute, was eine Palliativstation ist. Es freut sie auch, dass so viele spenden. Damit kann angeschafft werden, was nicht in Krankenhaus-Etats zu finden ist.
40-köpfiges Team
Kurze Pause im Stationszimmer. Schnell die Patientenakten auf neuesten Stand bringen. Am Computer dokumentieren. Nebenei eine Flasche Wasser leeren. Und ein Stück vom Kuchen essen, den Angehörige heute als Dankeschön vorbeigebracht haben.
Am Flur wartet einer der Psychologen des Klinikums, bis er den neuen Patienten in seinem Zimmer aufsuchen kann. "Warum? Warum ich?" sind die Fragen, mit denen konfrontiert zu werden, er gewöhnt ist und für die es keine Antwort gibt. Warum bekommt jemand, der nie geraucht hat, Lungenkrebs? Der Psychologe ist nur einer in einem 40-köpfigen Team aus Pflegekräften, Ärzten, Physio-, Aroma-, Musiktherapeuten, Seelsorgern, Sozialpädagogen sowie ehrenamtlichem Besuchsdienst des Franziskus Hospizvereins.
Enkel hat Kommunion
Dann schaut Dr. Kristina Graf bei Herrn L. vorbei. Er leidet unter massiven Wasseransammlungen. Sie schränken seine Beweglichkeit ein und machen das Atmen zu Schwerarbeit. Die Ärztin überzeugt ihn ganz praktisch, dass es für ihn besser ist, fast im Bett zu sitzen als flach zu liegen, obwohl ihm das eigentlich lieber wäre. Sie schüttelt das Kissen auf und steckt es ihm in den Rücken. Es kommt ihr zugute, dass sie vor dem Studium Krankenschwester gelernt hat. "Mit meinen praktischen Handgriffen werde ich von Kollegen oft aufgezogen", sagt sie lachend. Herr L. aber nickt anerkennend. Dann erzählt er, dass er am Vortag ein tolles Medikament bekommen hat. "Ich habe mich so gut gefühlt, dass ich am liebsten meine Sachen gepackt und heimgegangen wäre", sagt er grinsend. Und man versteht, warum alle vom Humor von Herrn L. schwärmen, der, so wie er daliegt, an einen bedauernswerten Käfer erinnert, der auf den Rücken gefallen ist. "Aber heute hat der Effekt schon nachgelassen", sagt er ernüchtert. Dabei hat sein Enkel am Sonntag Kommunion. "Da sollte der Opa schon dabei sein", meint Herr L. mit Blick auf Dr. Meßmann. Man hört's heraus, das tut ihm weh. Einen Kommunion-Gottesdienst wird er aber nicht durchstehen. "Ihr Enkel kann doch vor der Dankandacht am Nachmittag beim Opa vorbeischauen - mit einem Stück Kommunion-Torte", schlägt Dr. Meßmann vor. "Ja", sagt Herr L., "so könnten wir das machen."
Die nächste Zimmertür. Eine kleine, zierliche Frau in langer Hose, T-Shirt, Strickweste und Turnschuhen kommt dem Arzt und der Schwester entgegen, die heute für Frau S. zuständig ist. Man merkt gleich, da ist ein ganz starker Mensch. "Wie geht es Ihnen heute?" Die Frau schreibt mit einem Stift auf eine kleine Wischtafel. Sie kann nicht mehr sprechen. Und das Atmen fällt ihr schwer. Auf ihrem Tisch steht ein Gerät, das wie eine Schreibmaschine aussieht. Tatsächlich tippt sie ein paar Worte und auf Knopfdruck spricht eine Computerstimme ihre Worte nach. "Da muss ich noch üben", schreibt sie und lacht. "Ich habe das Gerät erst seit Kurzem." Dr. Meßmann sagt ihr, dass sie am nächsten Tag den gemeinsam angepeilten Termin für eine kleine OP hat. Sie soll einen Luftröhrenschnitt bekommen, damit sie das Atmen nicht mehr so viel Energie kostet und die Verschleimung der Atemwege besser im Griff gehalten werden kann. Ein Gewinn an Lebensqualität. So empfindet sie es. Sie wirkt erleichtert. "Auch solche Eingriffe kommen manchmal bei uns vor, wenn sie die Situation eines Patienten verbessern", sagt der Arzt. "Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben." Dieser Sinnspruch von Cicely Saunders, der Pionierin der Hospizbewegung, hängt gerahmt im Stationszimmer. Dabei ist jedem im Team bewusst, "alles ausradieren, das schafft auch die Palliativmedizin leider nicht".
Dann schaut Dr. Meßmann zu einer anderen Frau ins Zimmer. Der Ehemann sitzt am Stuhl neben ihrem Bett. Sie ist froh über eine halbwegs ruhige Nacht und freut sich, dass die Krankenschwester schon auf dem Weg ist, ihr den Wunsch zu erfüllen, die Haare zu waschen. Dazu ist allerhand Ausrüstung nötig, denn die Kopfwäsche passiert im Bett. Einige Zeit später schiebt die Schwester das mobile Becken samt Fön über den Gang. "Frau G. schaut sehr gut aus. Ich bin für meine Friseurqualitäten gelobt worden", sagt sie lachend.
"Wir kennen Patienten und Angehörige schnell sehr gut", sagt stellvertretende Stationsleiterin Ulrike Dankesreiter, die seit Beginn der Palliativstation hier arbeitet. Die Patienten sind in der Regel länger da als im üblichen, aufgrund von Fallpauschalen auf möglichst kurze Verweildauern getrimmten Krankenhausbetrieb. "Wir sind sehr nah am Patienten", sagt sie, denn Grundpflege spiele hier eine viel größere Rolle. Mit Händchen halten lasse sich Palliativ-Pflege nicht abtun. "Man muss viel Fachkenntnis haben, zum Beispiel von Wundversorgung, und man muss improvisieren können - bis es für den Patienten passt. Sein individuelles Empfinden ist der Maßstab." Es gehe um das Leben im Hier und Jetzt. "Man stößt Türen auf in einer Palliativstation, die sonst verschlossen blieben", sagt sie, denn wenn es ums Sterben gehe, lerne man Menschen wirklich kennen. Jene, die gehen müssen, und jene, die zurückbleiben. In Traurigkeit, in Verzweiflung, mitunter in Streit unter Verwandten oder aber in Erleichterung über einen als Erlösung empfundenen Tod.
Abschiede
Frau P., die mit ihrem betagten Vater und einer Freundin in einem Zimmer am Bett der Mutter sitzt, bittet um ein Arztgespräch. "Was man als Arzt auf einer Palliativstation lernt, ist, über Unangenehmes zu sprechen", sagt Dr. Maximilian Meßmann. Man trifft sich ein paar Minuten später im Aufenthaltsraum. Die Mutter ist dem Tod schon nah. Das wissen Ärzte, Schwestern und die Familie. "Ich sehe, dass meine Mutter keine Schmerzen hat. Sie liegt ganz friedlich da." Das ist beruhigend für die Tochter, die sich in einer Zwickmühle befindet. Sie lebt weit weg von Straubing und muss dringend nach Hause. Sie hat dort alles stehen und liegen gelassen, berufliche Auszeiten in Monaten des gesundheitlichen Auf und Ab völlig ausgereizt und sogar ihre Kinder kurz aus der Schule genommen. Kein Einzelfall, zumal heute selten die ganze Familie an einem Ort wohnt. Auch an dieser Not von Angehörigen nehmen Ärzte und Schwestern aus nächster Nähe Anteil. Auch eine Facette von Palliativstation. Ihren Vater, der an Demenz leidet, will die Frau jetzt mitnehmen und bei sich eine geeignete Betreuung suchen. "Ich kann ihn nicht mehr alleine lassen." Die langjährige Freundin der Mutter wird weiter täglich hierher kommen. Sie wird sich "dann" um alles kümmern, alles ist besprochen. Es ist ein Abschied vor dem Abschied.
Wie hält man das aus? Die vielen Abschiede? "Der Moment zählt", sagt Dr. Carmen Müller. Die Stunden, die man mit Familie und Freunden verbringt, gemeinsam isst, der Urlaub. Momente des Glücklichseins, des Zusammenseins, der Entspannung. "Für mich ist alles Schöne eine keineswegs selbstverständliche Zugabe."