Kulturwissenschaftler im Interview
"Die Rassismus-Debatte geht mir zu weit"
16. August 2020, 9:00 Uhr aktualisiert am 16. August 2020, 9:16 Uhr
Im idowa-Interview spricht Prof. Dr. Gunther Hirschfelder über den Wandel in der Gesellschaft, vermeintlich "soziale" Netzwerke und wie er unter anderem die Rassismus-Debatte einordnet. Er ist Kulturwissenschaftler an der Universität Regensburg.
Die täglichen Grabenkämpfe auf Facebook und Co. gehören längst zum Alltagsbild. Links gegen Rechts, "Gutbürger" gegen "Wutbürger" und irgendwann jeder gegen jeden. Von der Flüchtlingspolitik über Greta Thunberg bis hin zur Corona-Krise: Reizthemen gibt es viele. Und damit einhergehend viele Meinungen, die auf noch mehr vermeintlichen Fakten basieren. Ist da noch Platz für einen zielführenden Diskurs oder geht es vielmehr nur noch um die Frage "Wer hat Recht?"
Herr Prof. Dr. Hirschfelder, wie sozial sind denn die Sozialen Medien tatsächlich?
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder: Die Sozialen Medien sind natürlich nicht sozial. Für uns Kinder der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland bedeutet der Begriff ja, auf Ausgleich bedacht zu sein. Ein faires Miteinander also, anstatt ein Gegeneinander. Und das können die Sozialen Netzwerke natürlich nicht sein, weil sie kommerziell betrieben werden. Das Ziel dabei ist aber nicht eine bessere Gesellschaft, sondern Geld zu verdienen.
Obwohl ja auch auf Facebook und Co. Menschen weltweit gewissermaßen zusammengebracht werden…
Prof. Dr. Hirschfelder: Innerhalb der Sozialen Netzwerke mag das natürlich zutreffen, aber durch den Monopolcharakter einzelner Sozialer Netzwerke haben wir zwangsläufig die Situation, dass es immer Menschen innerhalb und außerhalb dieser Plattformen gibt. Wir Kulturwissenschaftler nennen dieses Prinzip Inklusion durch Exklusion. Insofern haben Soziale Netzwerke nicht nur einen verbindenden Charakter, sondern vielleicht sogar noch stärker einen trennenden Charakter.
"Soziale Netzwerke stellen keinen realistischen Querschnitt unserer Gesellschaft dar"
Würden Sie sagen, dass die Sozialen Netzwerke einen realistischen Querschnitt unserer Gesellschaft darstellen?
Prof. Dr. Hirschfelder: Nein, das tun sie sicherlich nicht. Dazu müsste man erst einmal auch genauer betrachten, was unsere heutige Gesellschaft eigentlich ist.
Wie würden Sie unsere Gesellschaft denn definieren?
Prof. Dr. Hirschfelder: Wir hatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Leitmotiv einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Darin waren die Lohnunterschiede nicht zu markant und da hatten wir so etwas wie eine gesellschaftliche Mitte. Daraus resultierte auch der Begriff vom "Otto-Normal-Verbraucher". Diese Zeit ist jedoch endgültig vorbei. Mittlerweile leben wir in einer Lebensstilgesellschaft, in der sich die verschiedenen verszenten Lebensspiegel zunehmend voneinander entfernen.
Und diese entstandene Kluft spiegelt sich nun in den Sozialen Medien wider?
Prof. Dr. Hirschfelder: Ja, das kann man so formulieren. Wir haben durch diese Sozialen Netzwerke einfach einen extrem trennenden Charakter. Die dort geführten Diskussionen sind voluminös und haben oft gar keine kommunikative Schnittmenge mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen.
+++ Warum in den Sozialen Netzwerken kaum noch ein wirklicher Dialog möglich ist, lesen Sie auf der nächsten Seite. +++
Selbstbestätigung statt Dialog im Internet
Nun sind ja Begleiterscheinungen wie Hetze, "Hate-Speech", Sensationsgier und mangelndes Mitgefühl mittlerweile weit verbreitete Phänomene im Internet. Gab es das Ihrer Ansicht nach in Zeiten vor Social Media auch schon in diesem Ausmaß? Ich denke da beispielsweise an die obligatorischen Stammtischrunden im Wirtshaus, wie man sie früher ja noch kannte.
Prof. Dr. Hirschfelder: Im analogen Zeitalter haben Menschen stärker miteinander gesprochen und der Stammtisch ist dabei im Idealfall eine Institution, wo Leute sich zwar über Inhalte streiten, aber eben nicht komplett zerstreiten. Wohingegen wir im Bereich Social Media häufig die Situation haben, dass sich dort Menschen bewegen, um Bestätigung für ihre Meinung zu bekommen. Sobald dort aber jemand anderer Meinung ist, löst das bei ihnen Aggressionen aus. Ich denke da zum Beispiel an Themen wie Tierhaltung oder Veganismus, wo kaum ein Dialog stattfindet, sondern hauptsächlich Anfeindungen.
Im Internet auf der Suche nach Selbstbestätigung
Demnach geht es primär eigentlich gar nicht mehr um einen Dialog?
Prof. Dr. Hirschfelder: Wenn man sich bestimmte Plattformen im Internet ansieht, dann merkt man, dass sich dort viele lediglich in ihren Meinungen bestärken wollen. Sie bilden eine Art Filterblase. Und als Resultat dieser permanenten Selbstbestätigungen werden die Menschen zunehmend weniger offen für einen Dialog.
Aber sind verschiedene Meinungen nicht eigentlich die Quintessenz einer funktionierenden Gesellschaft?
Prof. Dr. Hirschfelder: Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir mündige Bürger haben, die eigene Meinungen haben. Aber Meinung entsteht eben nur im Dialog. Und auf vielen Social Media-Plattformen findet kein Dialog statt, sondern meist nur noch ein Monolog.
Geht es dabei also vorwiegend um Selbstverwirklichung?
Prof. Dr. Hirschfelder: Naja, Äußerungen in Sozialen Netzwerken sind häufig auch soziale Markierungen der Menschen, die das grundsätzliche Bedürfnis haben, sich mitzuteilen. Das ist eine anthropologische Grundkonstante. In unserer Gegenwart haben wir aber immer weniger die Möglichkeit, uns mitzuteilen und die Corona-Krise verstärkt das sicherlich nochmal.
Inwiefern verstärkt das die Corona-Krise?
Prof. Dr. Hirschfelder: Weil etwa die Institution Wirtshaus an Bedeutung verliert, weil der Medienkonsum zunimmt und weil wir Menschenansammlungen meiden. Und wenn ich mich in einer Gesellschaft nicht mehr unterhalten kann, dann ziehe ich mich eben in einen vermeintlichen virtuellen Dialog zurück. In Wirklichkeit ist es aber kein Dialog, sondern ein Statement eines Einzelnen. Allerdings entsteht bei diesen Menschen der falsche Eindruck, sie hätten sich durch ihren Kommentar den Mitmenschen mitgeteilt.
Man ist also gar nicht mehr bereit, andere Meinungen zuzulassen? Geschweige denn, sich davon überzeugen zu lassen…
Prof. Dr. Hirschfelder: Ja, das beobachten wir zumindest in den Feldern, die ich in der Forschung überblicken kann.
+++ Warum in unserer heutigen Gesellschaft vieles gebrandmarkt wird, lesen Sie auf der nächsten Seite. +++
Muss in der Gegenwart alles aus der Vergangenheit auf den Prüfstand?
Ein weiteres Internet-Phänomen sind Online-Petitionen. Ist es ein natürlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Wandels, jeden Stein der Vergangenheit neu umzudrehen und alles auf den Prüfstand zu stellen?
Prof. Dr. Hirschfelder: Das ist sicherlich auch ein Phänomen unserer Zeit, weil seit einer Generation eine politische Orientierungslosigkeit vorherrscht. Wo Meinungsbildung und Dialog früher noch vergleichsweise einfach waren und man sozusagen ein Gerüst hatte, um Dinge relativ einfach zu bewerten, ist durch den Wegfall des Sozialismus eigentlich auch der Kapitalismus als Leitperspektive der Gesellschaft weggefallen. Jetzt dominiert der Neoliberalismus, der dazu führt, dass zentrale Bewertungssysteme der Gesellschaft an Bedeutung eingebüßt haben und viele Menschen nicht mehr eindeutig sagen können, was richtig und was falsch ist. Und eben durch die Auflösung von Ideologien steht plötzlich alles auf dem Prüfstand. Man wird unsicher und tut sich umso schwerer, Lösungen zu finden.
"Um Dinge zu hinterfragen, braucht man Erfahrung und Dialoge"
Wenn man doch aber selbst nicht mehr sicher ist, was richtig und was falsch ist, dann wäre es doch per se eigentlich genau richtig, die Dinge erst einmal kritisch zu hinterfragen?
Prof. Dr. Hirschfelder: Ja, aber um Dinge zu hinterfragen braucht man Erfahrung und Dialoge. Aktuell sehen wir das ja in der Corona-Krise ganz deutlich, dass man sich immer weniger konstruktiv austauschen kann. Umso schwerer wird es, sich eine fundierte Meinung zu bilden.
Eine der bekannteren Online-Petitionen der jüngsten Zeit stammt aus Niederbayern. Dort hat man es sich zum Ziel gesetzt, das sogenannte Donaulied aus den Festzelten zu verbannen. Auch hier hat man den Eindruck, es stünden sich Verfechter der Moderne und Traditionalisten unversöhnlich gegenüber.
Prof. Dr. Hirschfelder: Vorweg muss ich sagen, dass mir der konkrete Fall des Donauliedes und dessen Inhalte nicht bekannt sind. Deshalb kann ich mich zu diesem Beispiel nicht konkret äußern. Generell lässt sich aber durchaus feststellen, dass wir mittlerweile in einer Gesellschaft der Hypermoral leben. Darin wird alles gebrandmarkt und es werden sich Urteile gebildet über Dinge, die man eigentlich gar nicht beurteilen muss. So werden Statuen niedergerissen und Umbenennungen von Straßennamen angestoßen. Das geht soweit, dass darüber diskutiert wird, ob Immanuel Kant, der Begründer der Aufklärung, heute überhaupt noch akzeptabel ist.
"Reißt das Gäubodenmuseum nieder, denn die Römer waren eine Sklavenhalter-Gesellschaft"
Welche Probleme sehen Sie damit konkret verbunden?
Prof. Dr. Hirschfelder: Das ist insofern problematisch, weil dann nichts übrig bleiben wird. Mit diesem Vorgehen wird man weder im Liedgut noch im Erzählgut oder generell in der Geschichte noch Dinge finden, die man akzeptieren kann. Nur ein Beispiel: nach dieser Logik könnte ich auch hergehen und sagen: "Reißt das Gäubodenmuseum in Straubing nieder, denn da ist ein Römerschatz und die Römer waren eine Sklavenhalter-Gesellschaft, in der Frauen nichts zu sagen hatten." Wie Sie sehen, könnte ich mit dieser Logik das ganze Land zubetonieren.
+++ Warum Prof. Dr. Hirschfelder die Rassismus-Debatte zu weit geht, lesen Sie auf der nächsten Seite. +++
Die Rassismus-Debatte
Hat Social Media einen Anteil an dieser Entwicklung?
Prof. Dr. Hirschfelder: Diese retrospektiven, permanent vordergründigen Bewertungen, die alles aus dem Kontext reißen, finde ich hoch problematisch. Und Social Media feuert solche Diskussionen häufig an.
"Soll man deshalb jetzt Udo Lindenberg verbieten?"
Auch die Rassismus-Debatte hat ja dieser Tage eine gewisse Eigendynamik entwickelt. So muss sich die Stadt Coburg wegen des Mohren in ihrem Stadtwappen verantworten, "Mohren"-Apotheken stehen wegen ihres Namens in der Kritik und selbst Kinderbücher wie "Pippi Langstrumpf" oder "Jim Knopf" stehen mittlerweile unter Rassismus-Verdacht. Geht Ihnen das zu weit oder ist das für Sie nachvollziehbar?
Prof. Dr. Hirschfelder: Das geht mir eindeutig zu weit, weil all diese Dinge im Kontext ihrer Zeit betrachtet werden müssen. Diese Diskussionen sind in der Regel völlig ahistorisch. Nehmen Sie nur mal das Beispiel Udo Lindenberg. In dem Lied "Daumen im Wind" kommt die Zeile vor "Ich möcht' auch gerne mal nach Afrika und mit den Urwaldnegern trommeln". Soll man deshalb jetzt Udo Lindenberg verbieten? Nein, das ginge ebenfalls zu weit. Denn Udo Lindenberg hatte das in den 70er Jahren gesungen, um seinem Fernweh in der damals politisch korrekten Sprache Ausdruck zu verleihen. Ähnlich verhält es sich auch mit den "Mohren-Apotheken", die dem Namen nach eine Würdigung an die Heiligen Drei Könige sind. Dabei auf Rassismus zu schließen, ist nicht nur ahistorisch, sondern auch grundlegend falsch.