Lebensretter werden
So funktioniert eine Stammzellspende
26. Mai 2020, 17:08 Uhr aktualisiert am 26. Mai 2020, 17:08 Uhr
Jede Viertelstunde erkrankt laut der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) ein Mensch in Deutschland neu an Blutkrebs. Auch Christian Falter (53) aus Atting bekam die Diagnose: Leukämie (wir berichteten). Die Krankheit kann geheilt werden - selbst wenn Chemotherapie oder Strahlentherapie bereits versagt haben. Was Patienten wie Christian dafür dringend brauchen, ist ein Stammzellspender.
Einen wie Bernd Kühne (41). Der Buchhändler kommt ebenfalls aus Atting und hat gerade eine Stammzellspende hinter sich. Er erzählt Gäuboden aktuell, wie er die Spende erlebt hat - in der Hoffnung, dass sich noch viele weitere potenzielle Spender für Christian registrieren lassen.
Mehr als 20 Jahre, nachdem Bernd Kühne sich selbst während seines Zivildienstes als Stammzellspender registrieren lassen hatte, kommt Anfang 2019 der Anruf der Deutschen Stammzellspenderdatei (DSSD): "Wir haben einen Empfänger, für den Ihre Stammzellen eventuell passen. Sind Sie noch immer bereit, zu spenden?" Das ist er. Per Post kommt ein Testset samt frankiertem Rückumschlag, mit dem Kühne zum Hausarzt gehen muss - Blut abnehmen. Wenige Tage später ist klar: Er käme als Spender tatsächlich infrage, aber es stehen noch andere mögliche Spender zur Auswahl. Ein Brief flattert ins Haus: Die Spende wird aktuell nicht gebraucht.
Ab sofort zur ständigen Verfügung halten
Erst im Januar 2020 ruft die DSSD wieder an: "Sind Sie immer noch bereit?" Falls ja, soll Kühne sich auf Abruf zur Verfügung halten, nicht mehr in den Urlaub fahren - oder nur nach vorheriger Absprache, um immer erreichbar zu sein. Er überlegt nicht lang: "Das würde ich mir mein Leben lang nicht verzeihen, wenn ich jetzt nein sage."
Mitte Februar fährt er zur Voruntersuchung bei der Blutspendezentrale des DRK in Ulm. Die Ärzte dort machen einen Ultraschall der inneren Organe, EKG und verschiedene Blutbilder. Ein kostenloser Gesundheits-Checkup, der ausschließen soll, dass durch die Stammzellspende ein Risiko für den Spender entsteht. Kühne, der sonst alles hasst, was mit Kliniken und Praxen zusammenhängt, ist begeistert: "Mit so viel Zeit, so gründlich und so nett wird man sonst nie untersucht."
Nebenbei lernt er schon mal die Räume kennen, wo später die Zellentnahme stattfinden soll. Zwei von acht Liegen sind mit Männern besetzt, die gerade an den Geräten hängen. Beide erzählen von grippeähnlichen Symptomen durch die Spritzen, die sie zur Vorbereitung bekommen haben - und wie diese Symptome sofort nachlassen, "sobald man an der Maschine hängt".
Vor allem, sagen die Spender, tun sie das gerne - zum Wohl der Empfänger. Kühne hat Zeit, den Spendern und Ärzten alle Fragen zu stellen, die ihm unter den Nägeln brennen. Er wird ausführlich aufgeklärt und erfährt schon, dass "sein" Empfänger besonders schwer ist und daher viele Stammzellen braucht.
Jetzt nur nicht krank werden!
Der Attinger fährt mit einem guten Gefühl nach Hause: "Die wissen, was sie tun, kümmern sich gut um einen und man bekommt wirklich alle Fragen, die man hat, beantwortet." Sogar die private Nummer von der Ärztin hat er bekommen und darf sich "24/7" melden.
Mit im Gepäck hat er Spritzen mit dem Botenstoff G-CSF in einer Kühltasche, den Spritzenplan und Paracetamol. Aber die braucht er noch nicht. Es dauert noch zwei Wochen, bis die Vorbereitung tatsächlich beginnt. Eine seltsame Zeit, in der er immer wieder in Gedanken bei dem Empfänger ist. Kühne weiß: Der Patient wird jetzt parallel vorbereitet. Sein Immunsystem wird heruntergefahren. Der Attinger hat Angst davor, jetzt selbst krank zu werden und nicht spenden zu können - denn dann stirbt wahrscheinlich der Empfänger. Corona ist gefühlt noch weit weg in Asien, aber die ganze Familie wäscht sich vorsorglich öfter die Hände, hält Abstand, passt auf.
Als er sich vier Tage vor Beginn der Spende die erste Spritze setzen muss, ist Kühne gerade zu Besuch bei Freunden in Hamburg. Er sitzt auf dem Gästebett und hat ein Problem: Man sollte ins Bauchfett spritzen. Die Ärztin hatte schon lachend gewarnt: "Bei Ihnen bin ich froh, dass ich nicht selber spritzen muss. Sie haben so wenig Bauchfett, dass sie die Spritze schräg ansetzen müssen." Der Einstich pikt etwas, ist aber "völlig unproblematisch".
Botenstoff simuliert eine Art Grippe
Jeden Morgen und Abend setzt sich Kühne nun eine Spritze. Schon in der ersten Nacht bekommt er Kopfschmerzen. "Mit jedem Tag, den du länger spritzt, nehmen die Symptome zu," erzählt er. Das ist normal, denn der Botenstoff G-CSF ist ein Wachstumsfaktor, der auch auf natürliche Weise bei Infektionen im menschlichen Organismus entsteht. Er bewirkt, dass Stammzellen vom Knochenmark in das periphere Blut übertreten. Die Spritzen simulieren eine Art Grippe. Zum Kopfweh kommen Schmerzen im Beckenbereich, Gliederschmerzen und Müdigkeit hinzu. Immerhin bekommt Kühne kein Fieber und findet, die restlichen Symptome seien "völlig problemlos über Paracetamol zu steuern, wenn man sich etwas schont." Er ist froh, gerade ohnehin Urlaub zu haben.
Direkt von Hamburg fährt er mit dem Zug Anfang März nach Ulm, wo die DSSD ihm ein Hotelzimmer gebucht hat - das sie, wie auch das Essen und die Anfahrt - bezahlt.
Am nächsten Morgen um 9 Uhr geht es in der DRK-Zentrale los: Ein kurzes Arztgespräch, ein Fragebogen, ob er gesund und fit ist, ein Bluttest. Resultat: Er hat weniger Stammzellen gebildet, als erwartet. Die Ärzte setzen direkt noch eine Botenstoff-Injektion mit erhöhter Dosis.
Gespannt und aufgeregt nimmt der 41-Jährige auf einem Liegestuhl Platz. In jede Armbeuge kommt eine Nadel: "Die können super Zugänge legen, das tut überhaupt nicht weh." Einen Arm seiner Wahl (links) muss er ganz still halten, den anderen darf er so bewegen, dass er trinken, essen oder Buchseiten umblättern kann. Sogar Halter für Bücher gibt es - aber lesen ist anstrengend. "Ich habe Hörbuch gehört, über Kopfhörer," sagt der Buchhändler. Vier weitere Spender im Raum schauen sich unterdessen Filme auf ihren Tablets an.
Links geht das Blut raus, rechts wie der rein
Es herrscht eine "sehr entspannte Atmosphäre, gar nicht wie in einem Krankenhaus oder in einer Arztpraxis." Die Maschinen machen leise ihre Arbeit. Bei der Apherese genannten Entnahmeprozedur wird Blut aus dem linken Arm entnommen. Die Stammzellen werden in der Maschine, einem sogenannten Zellseparator, herausgefiltert. Über einen Schlauch läuft das Blut in den rechten Arm zurück, über einen zweiten das Blutplasma mit den Stammzellen in einen Beutel, der am Gerät hängt. Der Spender kann sehen, wie die Stammzellen sich darin sammeln. Es ist ein ständiger Kreislauf. Kühne meint: "Was ich interessant fand: Wenn genug Stammzellen zusammen sind und kein Blut mehr entnommen wird, dauert es noch einige Minuten, bis alles Blut wieder zurück im Körper ist."
Er ist müde, aber es geht ihm gut. Die Ärzte sorgen für Rundumverpflegung. Dadurch, dass dem Blut auch Mineralstoffe entnommen werden, fangen seine Finger an zu kribbeln, ihm wird manchmal schwindelig. Dann bekommt er Cola, Banane, Butterbrezen und Mineraltabletten. Das einzige Problem: "Man bekommt gesagt: Ganz viel trinken, damit die Spritzen gut wirken. Das habe ich am Tag der Entnahme auch gemacht - sechs bis sieben Liter! Da war mir noch nicht klar, dass vier Stunden ohne Toilette echt lang werden können..."
Auch am Folgetag hängt Kühne wieder vier Stunden am Gerät. Aber schon nach der morgendlichen Blutabnahme ist klar, dass die Spritzen diesmal sehr gut gewirkt haben und genug Stammzellen da sind: "Ich wusste, dass alles richtig gut aussieht und locker zu schaffen ist." Nun ist es der Attinger selbst, der entspannt auf der Liege liegt und zwei zukünftigen Spendern seine Erfahrungen schildert. Er sagt ihnen, "dass ich es auf jeden Fall wieder machen würde - und dass ich mir für die Zeit des Spritzens nicht zu viel vornehmen würde - keine geschäftlichen Termine und keine sportlichen Wettkämpfe."
Am Abend ist der Familienvater wieder Zuhause, erschöpft aber zufrieden. Für die beiden Tage der Spende war er von der Arbeit frei gestellt. Den nächsten Tag nimmt er sich frei, um sich noch etwas zu erholen. Jetzt ist der Ball beim Empfänger. Wie es ihm wohl geht?
Warten auf in Lebenszeichen
Bernd Kühne hat dem Empfänger seiner Stammzellen inzwischen einen Brief geschrieben. Das darf er, aber nur anonym über die DSSD. Jetzt hofft er auf eine Antwort. Anfang Juni, drei Monate nach der Spende, darf er dann bei der DSSD nachfragen, wie es dem Patienten geht. Eine Garantie auf Auskunft hat man aber nicht. Erst in zwei Jahren kann bei erfolgreicher Stammzellspende die Anonymität zwischen Spender und Empfänger aufgehoben werden, wenn beide das wünschen.
Kühne wünscht sich vor allem, dass "sein" Empfänger ganz gesund wird. Und er wünscht sich, dass für Christian, dessen Familie derzeit im selben Ort auf einen Hoffnungsschimmer wartet, ebenfalls ein passender Spender gefunden wird.
Registrieren kann sich jeder unter www.dkms.de/Christian-braucht-euch. Spender sein kann jede gesunde und mindestens 50 Kilo schwere Person im Alter von 18 bis 60 Jahren. Eine Neuregistrierung ist bis zum 55. Lebensjahr möglich