Professor im Gespräch
Armut im Alter: Experte sieht gesamte Gesellschaft in der Pflicht
8. Dezember 2023, 10:24 Uhr
Es ist ein Thema, dass immer wieder aufkommt: Armut. Mit den steigenden Lebenshaltungskosten, der Inflation und der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt steigt das Risiko für viele Menschen, in die Armut abzurutschen. Das gilt insbesondere für ältere Menschen - dann ist von Altersarmut die Rede. Was darunter zu verstehen ist, warum insbesondere Frauen betroffen sind und welche Schritte es braucht, um die Altersarmut zu bekämpfen, weiß Dr. Markus Kühnel, Professor für Soziale Gerontologie an der Hochschule Landshut.
Professor Dr. Markus Kühnel, ab wann spricht man von Armut?
Markus Kühnel: Dafür gibt es die Armutsrisikoquote. Diese bezieht sich nach EU-Standard auf die Anteile der Bevölkerung, denen weniger als 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens zur Verfügung steht. Dieser Schwellenwert liegt gegenwärtig bei rund 15.000 Euro im Jahr und bei 1.250 Euro im Monat. Während demnach ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht sind, ist die Armutsgefährdungsquote für Personen ab 65 Jahren mit rund 18 Prozent höher. Besonders im sehr hohen Alter ab 80 Jahren nimmt die Armutsgefährdung von Frauen zu. Diese Quote ist in den letzten Jahren insgesamt angestiegen.
Warum sind Frauen häufiger von Altersarmut betroffen als Männer?
Kühnel: Frauen sind in allen Altersgruppen stärker armutsgefährdet als Männer. Die Armutsgefährdungsquote von Frauen liegt nach Ergebnissen des EU-SILC 2022 [Anmerkung der Redaktion: Der EU-SILC 2022 ist ein Mikrozensus über Einkommen und Lebensbedingungen, der vom Statistischen Bundesamt einmal jährlich herausgegeben wird] rund 1,5 Prozentpunkte höher als bei Männern. Diese Unterschiede nehmen mit steigendem Alter noch zu. In der Altersgruppe 75 plus sind mehr als ein Fünftel der Frauen armutsgefährdet, aber nur etwa 14 Prozent der Männer.
Wie kann man das erklären?
Kühnel: Es gibt im wesentlichen zwei Gründe. Frauen sind seltener erwerbstätig beziehungsweise nicht so häufig in Vollzeitstellen beschäftigt. Außerdem verdienen sie in der Regel weniger. Dies wirkt sich wiederum auf die Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung aus und begünstigt Einkommensarmut im Alter. Das Armutsrisiko ist besonders hoch bei Frauen, welche nie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind.
Was können Frauen tun, um gegen Altersarmut vorzusorgen?
Kühnel: Übergreifende Empfehlungen greifen oft zu kurz. Es wird gerne zu mehr betrieblicher und privater Vorsorge geraten. Die konkrete Wirksamkeit dieser Instrumente scheint jedoch eher begrenzt zu sein. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel die Lohnhöhe, die Arbeitszeit und -intensität sowie das branchenspezifische Stellenangebot können allenfalls indirekt beeinflusst werden. Altersarmut ist eher als ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sehen, welches nicht durch Zuweisung von Verantwortlichkeiten an die betroffenen Bevölkerungsgruppen gelöst werden kann.
Es ist also vielmehr eine Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Was muss aus Ihrer Sicht geschehen?
Kühnel: Zur Vermeidung von Altersarmut ist eine lebenslauforientierte Sozialpolitik beziehungsweise soziale Demografiepolitik erforderlich. Ziele eines solchen Ansatzes sind zum einen der Auftrag zur Risikoabsicherung und zum anderen die Bereitstellung von lebenslaufbezogenen Gestaltungsoptionen, beispielsweise durch eigenverantwortliche Arbeitszeitreduzierung. Präventive Maßnahmen zielen auf solche Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit einer Betroffenheit begünstigen oder diese (un)mittelbar verursachen. Es handelt sich beispielsweise um die Förderung von stabilen Arbeitsverhältnissen, die Sicherstellung angemessener Löhne und Gehälter, Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit und der Sicherung von Beschäftigungsfähigkeit, Zugang zu Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie Maßnahmen zur Unterstützung von Familien sowie zur Vermeidung von Vereinbarkeitskonflikten, um Frauen die kontinuierliche Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.
Können auch die Gemeinden aktiv werden?
Kühnel: Kommunen können etwa die Angebote für Betroffenen ausbauen. Mithilfe von Aufklärung können Sie auch darauf abzielen, die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu vergrößern. Kommunen haben im Sinne einer Lebenslagenarmutspolitik vor allem die Möglichkeit, die immateriellen Dimensionen von Armut im Alter zu adressieren, zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und pflegerische Versorgung, Mobilität sowie Teilhabe. Wesentliche Bestandteile einer kommunalen Armutspolitik sind die Thematisierung und Anerkennung von Altersarmut als kommunaler Aufgabe sowie eine regelmäßige Sozial- und Armutsberichterstattung, welche partizipativ ausgerichtet sein sollte. Hierbei ist eine institutionelle Verankerung der lokalen Armutspolitik erforderlich sowie ein sozialräumliches Quartiersmanagement. Zur Umsetzung eines solchen Politikansatzes braucht es ferner eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Kommunen sowie die Unterstützung der Bundes- und Landespolitik.