Urteil des höchsten EU-Gerichtes:
Ungarn begeht Freiheitsentzug
14. Mai 2020, 17:22 Uhr aktualisiert am 14. Mai 2020, 22:37 Uhr
An der Grenze zwischen Ungarn und Serbien steht das Flüchtlingslager Röszke. Unüberwindbare Zäune und Stacheldraht umgeben das Container-Dorf. Wer hier landet, kommt nicht weiter - weder nach Ungarn noch zurück nach Serbien. Die Zustände haben nichts mit einem Auffangzentrum für illegale Migranten zu tun. Röszke ist ein Gefängnis. Seit Donnerstag ist es nun auch höchstrichterlich erlaubt, die Situation genau so zu beschreiben.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hatte über eine Klage von vier Asylbewerbern aus Afghanistan und dem Iran zu entscheiden. Sie waren über die Türkei, Bulgarien und Serbien gekommen und in Ungarn gelandet. Die dortigen Behörden wiesen das Begehren um Schutz mit dem Hinweis ab, die Zuwanderer seien über ein sicheres Drittland - nämlich das Nicht-EU-Mitglied Serbien - eingereist, wo ihnen weder Verfolgung noch ein sonstiger Schaden drohte. Als auch die zuständigen serbischen Dienststellen in Belgrad eine Rückkehr ablehnten, landeten die Kläger in der Transitzone Röszke.
Verheerende Umstände seit Corona-Krise verschärft
Die Luxemburger Richter prüften nun die Situation und befanden, dass die vier Migranten das abgeschottete Gebiet "aus eigenen Stücken rechtmäßig in keine Richtung verlassen" könnten. Im Übrigen verlangten sie, dass ein Gericht die Rechtmäßigkeit der "Haft" (EuGH) überprüfen müsse. Sollte diese Untersuchung ergeben, "dass die Asylbewerber ohne gültigen Grund in Haft genommen wurden, muss das angerufene Gericht sie unverzüglich freilassen" - und zwar binnen vier Wochen. Was Ungarn mit den Menschen bisher mache, sei "Freiheitsentzug". Der wurde während der Coronavirus-Krise noch weiter verschärft. Seither dürfen die dort untergebrachten Migranten überhaupt keinen Besuch mehr empfangen. Dies war bis dahin wenigstens in seltenen Fällen möglich.
Migranten dürfen überhaupt keinen Besuch mehr empfangen
Es ist nur ein weiterer Fall, bei dem die Politik des nationalkonservativen Regierungschefs Viktor Orbán als Bruch des europäischen Rechts entlarvt wurde. Schon zuvor hatte der EuGH den Umgang Budapests mit den Hilfesuchenden angeprangert. "Der Fall Ungarn schürt besondere Sorgen", erklärte denn auch die für Grundrechtsfragen zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova am Donnerstag im Parlament. Dort war Ungarn vor allem wegen der umfassenden und nicht befristeten Sondervollmachten ein Thema, mit denen Orbán sich zu Beginn der Krise von seinem Parlament hatte ausstatten lassen. Kritiker sprachen damals in Anspielung auf die Nationalsozialisten von einem "Ermächtigungsgesetz".
Unterstützer stellen sich schützend vor Orbán
"Die Fidesz-Regierung hat unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie das ungarische Parlament auf unbestimmte Zeit entmachtet", kritisierte die Vizepräsidentin des EU-Parlamentes, die ehemalige Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD). "Die EU-Kommission darf nicht länger warten, alle ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel bis zum Vertragsverletzungsverfahren zu ergreifen, um darauf zu reagieren."
Tatsächlich wurde das entsprechende Verfahren längst in Gang gesetzt, an dessen Ende Ungarn Subventionen aus Brüssel entzogen werden könnten. Doch im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs gab es bisher keine Chance für die notwendige Einstimmigkeit, da sich die Orbán-Unterstützer Polen, Tschechien und die Slowakei schützend vor ihn stellten. Und über ein neues wirkungsvolles Verfahren in Zusammenhang mit dem künftigen Sieben-Jahres-Etat der Union fehlt bisher eine Übereinkunft.