Politik
Russische Journalistin Marina Owsjannikowa: "Sahra Wagenknecht ist die Advokatin des Teufels"
27. Februar 2023, 18:41 Uhr aktualisiert am 27. Februar 2023, 18:41 Uhr
AZ-Interview mit Marina Owsjannikowa: Die 44-jährige TV-Journalistin wurde nach Zeigen des Plakates "Kein Krieg - Beenden Sie den Krieg - Glauben Sie der Propaganda nicht - Hier werden Sie belogen - Russen gegen den Krieg" festgenommen und nach Zahlung einer Geldbuße wieder freigelassen. Dann floh sie nach Europa.
AZ: Frau Owsjannikowa, unsere erste Frage ist so einfach wie kompliziert: Wie geht es Ihnen?
MARINA OWSJANNIKOWA: Okay. Wir sind sicher. Ich bin "Reportern ohne Grenzen" und Frankreich unendlich dankbar, die uns gerettet haben, die mich aus Russland herausgezogen haben, nicht nur mich, sondern auch mein Kind. Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen, denn ich hatte wirklich zehn Jahre Gefängnis vor mir. Das Gericht war schon im Anmarsch. Bis zum Prozess blieben nur noch neun Tage, und wir flohen.
Sie sind auf der Flucht, werden Sie verfolgt?
Nein, ich werde nicht verfolgt. Also nicht wirklich. Im Prinzip stehe ich auf der internationalen Fahndungsliste, aber die Europäer werden mich wohl nicht verhaften.
Müssen Sie ständig ihren Aufenthaltsort wechseln?
Nein, ich habe in Frankreich politisches Asyl beantragt. Ich werde es bald erhalten. Also hoffe ich, dauerhaft in Frankreich leben zu können. Nach Deutschland komme ich nur auf Einladung zu verschiedenen Veranstaltungen, wie zum Beispiel zum Jahrestag des Kriegsbeginns.
Sie haben es gewagt, im russischen Fernsehen gegen den Krieg in der Ukraine mit einem Plakat zu demonstrieren. Sie platzten in eine Sendung und hielten es in die Kameras. Sie konnten ahnen, welche Konsequenzen das für Sie haben würde. Warum haben Sie es dennoch getan?
Weil es mir nicht mehr möglich war, zu schweigen. Tag für Tag diese Dissonanz, was Putin uns sagte und was in Wirklichkeit passierte. Russland hatte einen brutalen Krieg in der Ukraine angefangen. Es war notwendig, der ganzen Welt die Wahrheit zu sagen, dass der König nackt war. Er hatte zwar diese Propagandafabrik um sich herum gebaut, aber das alles war Pappkulisse. Diese Propagandafabrik arbeitet nach der Art von Goebbels, es gibt nur Schwarz und Weiß. Die Öffentlichkeit wird ständig manipuliert. Nach gut drei Wochen Krieg hielt ich es nicht mehr aus. Eigentlich wollte ich in der Moskauer Innenstadt protestieren, aber dann hat mein Sohn mir die Autoschlüssel weggenommen, ich konnte nicht hin. Und dann hatte ich diese Idee in meinem Kopf, dass ich einen Live-Protest veranstalten könnte.
Und Sie haben nicht doch noch Angst bekommen und die Idee fallen gelassen?
Natürlich hatte ich Angst. Aber es ging nicht mehr. Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter Russin. Ich hatte das Poster an einem Sonntag auf einem Küchentisch gemalt. "No War" stand in Englisch oben. Darunter in Russisch: "Den Krieg beenden. Glauben Sie der Propaganda nicht." Am Montag, den 14. März 2022, nahm ich es mit in den Sender, eingerollt und versteckt im Ärmel meiner Jacke. Und dann zog ich es durch.
Was denken die Russen über den Krieg? Sie wissen doch, dass sie Propaganda serviert bekommen und dass die Opferzahlen gewaltig sind.
Alle Umfragen hier zeichnen das Bild einer starken Unterstützung für den Krieg. Sie werden unter den treuen Unterstützern durchgeführt. Diejenigen, die gegen den Krieg sind, werden nicht gefragt oder trauen sich nicht, das in den Umfragen zu sagen. Daher denke ich, dass die wirkliche Unterstützung für den Krieg, die wirkliche Zahl der Kriegsbefürworter jetzt in diesem Stadium nicht mehr als zehn Prozent beträgt. Wahrscheinlich ist es ungefähr die gleiche Zahl wie die der aktiven Kriegsgegner. Und die Mitte dazwischen ist diese schwankende Mehrheit. Sie haben sich versteckt, sie wissen nicht, wem sie folgen sollen. Wenn Russland anfängt, das Kriegsspiel zu gewinnen, bewegen sie sich nach dem Kriegsspiel. Und wenn die Kriegsgegner zu gewinnen beginnen, werden sie den Kriegsgegnern folgen.
"Ich habe mein ganzes Leben ruiniert"
Ihr Plakat war sechs Sekunden lang im russischen Fernsehen zu sehen. Diese sechs Sekunden haben Ihr Leben für immer verändert. Bereuen Sie manchmal Ihren eigenen Mut?
Nein, es tut mir nicht leid. Ich bedauere es nicht. Natürlich habe ich mein ganzes Leben ruiniert. Ich habe alles verloren, sowohl mein Zuhause als auch einen Teil meiner Familie und Heimat. Der Krieg hat mein Leben zum zweiten Mal auf den Kopf gestellt, denn das erste Mal haben russische Truppen mein Haus in Grosny in Tschetschenien dem Erdboden gleichgemacht. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Flüchtling. Zum zweiten Mal in meinem Leben. Aber ich bereue es nicht.
Was werden Sie als Nächstes tun? Ihr Buch "Zwischen Gut und Böse" ist gerade fertig geworden und erscheint in mehreren europäischen Ländern.
Ich plane, mich bei Menschenrechtsaktivisten zu engagieren. Etwas, das mit Meinungsfreiheit zusammenhängt, mit politischen Repressionen gegen Journalisten in Russland. Derzeit sind 19 Journalisten in Russland wegen politischer Anschuldigungen inhaftiert. Ich beabsichtige, für ihre Freilassung zu kämpfen. Dass mein Buch in Russland erscheint, ist sehr unwahrscheinlich. Es ist wohl unmöglich, einen Verlag zu finden.
In Deutschland wird heftig über den Krieg und vor allem über die Frage gestritten, wie stark die Bundesrepublik die Ukraine mit Waffen unterstützen sollte. Wird diese Debatte in Russland wahrgenommen?
Ja, das wird sie, aber natürlich sehr einseitig in den offiziellen Medien. Sahra Wagenknecht ist die Lieblingspolitikerin von Putins Fernsehpropagandisten. Das russische Fernsehen begann unmittelbar nach der Annexion der Krim, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Es gab weltweit nur wenige Politiker, die so eindeutig mit Putin sympathisierten. Politiker wie Sahra Wagenknecht und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán spalten Europa. Sie handeln im Interesse Putins, und sie spalten die vereinte Unterstützung der Menschen in der Ukraine, die aus den europäischen Gesellschaften kommen sollten. Deshalb lehne ich solche Politiker kategorisch ab. Wagenknecht ist die Advokatin des Teufels. Zur Wahrheit gehört, dass ich erst nach dem Beginn des Krieges auf die gute Seite gewechselt bin.
Zum Abschluss wieder eine einfache wie komplizierte Frage - kann es mit Wladimir Putin Frieden in der Ukraine geben?
Der gesamte Westen sollte sich gegen Putin versammeln, weil er ein Kriegsverbrecher ist. Friedensgespräche mit Putin sind derzeit ausgeschlossen. Wir sollten über die vollständige Demontage des Putin-Systems sprechen. Nur dann wird Russland zumindest etwas Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben und es echten Frieden mit der Ukraine geben.
HORINZONTALE LINIE
Marina Owsjannikowa: "Zwischen Gut und Böse - Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte",
Langen Müller Verlag, 208 Seiten; ISBN: 978-3-7844-3672-2;
20 Euro