Politik

AZ-Interview zur Politik-Krise in Österreich: "Die Neutralität ist inzwischen ein Mythos!"

Österreich steckt immer noch in einer tiefen politischen Krise. Die AZ spricht mit einem Experten über die anstehende Wahl in Kärnten, wie man mit der AfD umgehen könnte und wie sich der Ukraine-Krieg im Nachbarland Bayerns auswirkt.


Peter Filzmaier

Peter Filzmaier

Von Heidi Geyer

AZ-Interview mit Peter Filzmaier: Der Professor an der Universität für Weiterbildung Krems sowie an der Karl-Franzens-Universität Graz erklärt nicht nur seinen Studenten, sondern auch den Zuschauern im österreichischen Fernsehen die Politik im Lande.

AZ: Herr Filzmaier, die österreichische Politik ist von so vielen Skandalen überschattet, dass man kaum noch hinterherkommt. Haben Sie dazu einen Erklärungsansatz?

PETER FILZMAIER: In der jüngeren Vergangenheit galt das Zitat eines österreichischen Kriminal-Schriftstellers: "Es ist schon wieder was passiert." Das Besondere an den jüngsten Skandalen ist, dass Bilder wie beim Ibiza-Video und die Nachvollziehbarkeit von Chats medial eine gewisse Macht haben. Davor war das bei Absprachen im Hinterzimmer nicht für jedermann so nachvollziehbar. Man muss sehen: In Österreich haben wir auf der einen Seite durchaus eine Überregulierung und Überbürokratisierung. Auf der anderen Seite ist Element der Kultur, nicht nur in der Politik, das Motto "Ein bisserl was geht immer". Das führt dazu, dass bei an sich klaren Regelungen fast schon systematisch nach Schlupflöchern gesucht wird, etwa bei der Parteienfinanzierung oder bei der Vergabe von Posten und Aufträgen.

Österreichs Bundespräsident Alexander van der Bellen hat nach Ibiza gesagt: "So sind wir nicht." Wie ist die Debatte in der österreichischen Öffentlichkeit?

Die Wahrheit liegt in der Mitte. Viele teilen die Aussage des Bundespräsidenten. Aber offensichtlich gibt es zu viele, die genau so sind. Das Dilemma ist, dass die politischen Parteien eine Zeitenwende bei den Ansichten in der Bevölkerung entweder nicht erkennen wollten oder es verschlafen haben. Wir haben eine starke Parteiende-
mokratie mit einer hohen Anerkennung des Stellenwerts von Parteien. Da galt seit dem vorherigen Jahrhundert: Die Partei wäre dafür da, dir einen Job, eine Wohnung und so weiter zu besorgen. Wir haben in Österreich auch traditionell einen vergleichsweise hohen Anteil an Parteimitgliedern in der Bevölkerung. Diese Patronage-Funktion, wo einem die Partei zu etwas verhilft, liegt natürlich nur einen kleinen Schritt von fragwürdigen Seilschaften entfernt. Dennoch hatte dieses Bewusstsein bis in die 1970er Jahre Deckung. Heute ist das anders, insofern sind wir wirklich nicht so. Nur die Parteien machen so weiter wie zuvor.

Selbst der vermeintliche Heilsbringer Sebastian Kurz ist jämmerlich gescheitert. Gibt es Hoffnung auf ein Comeback?

Das ist momentan nur eine kleine Minderheit, die das unterstützen würde. Auch, weil über ihm das Damoklesschwert der strafrechtlichen Ermittlungen wegen Korruptionsdelikten hängt und eine Anklage möglich ist. Aber Sebastian Kurz hat auch mitbewirkt, dass die Öffentlichkeit fast schon resigniert. Denn er ist angetreten mit dem Slogan "Bei mir wird alles anders", er hat ja sogar den Parteinamen geändert. Dann hat sich herausgestellt, dass er die traditionellen Seilschaften nach Parteizugehörigkeit durch Postenschacher aufgrund persönlicher Loyalität ersetzt hat, aber letztlich nicht anders agiert hat. Er hat ja den höchsten Wirtschaftsjob in der Republik, den Vorsitz der Beteiligungsgesellschaft, an den ehemaligen Generalsekretär im ÖVP-geführten Finanzministerium, Thomas Schmid, gegeben. Und Schmid hat zu Kurz gechattet: "Ich liebe meinen Kanzler!" Weil der Schmid aber keine internationale Erfahrung hatte, hat man dieses Kriterium einfach aus der Ausschreibung gestrichen. Kurz hat die Desillusionierung bei der Bevölkerung insofern noch mal deutlich verschärft.

In Niederösterreich hat die rechte FPÖ jüngst 24,2 Prozent der Stimmen geholt - wie konnte es dazu kommen?

Die FPÖ hat ja auch in Tirol klar zugelegt. Die Partei bekommt die Stimmen der Enttäuschten und hat derzeit keine Konkurrenz. Sobald es hier eine Alternative für die Politikverdrossenen gibt, etwa das Team Stronach oder die MFG, bekam die FPÖ weniger Stimmen. Paradox ist, dass die FPÖ vom politischen Kurzzeitgedächtnis profitiert, Stichwort Ibiza-Video. Außerdem gelingt es der FPÖ, reine Oppositionswahlkämpfe zu führen, obwohl sie durch das Proporz-Wahlsystem in Niederösterreich Teil der Regierung war. Es hat aber auch damit zu tun, dass sich ÖVP und SPÖ als historische Erzfeinde sehen und immer versuchen, sich gegenseitig zu schwächen. Sie vergessen dabei, dass der Hauptgegner längst die FPÖ ist.

Wo sehen Sie den Unterschied zwischen der FPÖ und der AfD?

Die sind sich in vielen Positionen sehr ähnlich: nationalistisch, anti-europäisch, populistisch, gegen die da oben und das Angebot scheinbar einfacher Lösungen. Wobei die FPÖ das klassische Problem der Populisten schon mehrfach erlebt hat: Sobald sie in Regierungsverantwortung kommen, scheitern sie mit diesen vermeintlich einfachen Lösungen. Das ist der Unterschied zur AfD. In der Opposition ist das leichter, weil man nie den Elchtest antreten muss.

Eine Entzauberung der FPÖ in Österreich wird offenbar schnell vergessen. Eine Regierungsbeteiligung der AfD ist in Deutschland noch vollkommen tabu. Ist die FPÖ durch die Regierungsbeteiligung nicht erst salonfähig geworden?

Salonfähig ja, sobald eine Partei eine Koalition eingeht. Wobei auch das Gegenargument ist, dass die konsequente Nicht-Bereitschaft der Zusammenarbeit bewirkt, dass die FPÖ ihre Opferrolle erfolgreich nutzt, so dass sie in Umfragen bis auf Platz eins gekommen ist. Unabhängig von der inhaltlichen Bewertung, also nur rein strategisch gedacht, muss man feststellen, dass eine Weigerung zur Zusammenarbeit nicht die Lösung gewesen ist.

Womit ist am Sonntag bei der Wahl in Kärnten zu rechnen?

Kärnten ist in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall. Einerseits ist es traditionell eine Hochburg der FPÖ und war das Heimat-Bundesland von Ex-FPÖ-Chef Jörg Haider. Der hat aber die Partei gespalten - das BZÖ hat dann bei der Wahl über 40 Prozent bekommen. Jetzt ist man zwar größtenteils wieder vereint als FPÖ, auch wenn es noch eine Splitterpartei gibt. Der Status auf Facebook wäre: Es ist kompliziert. Zugleich hat Kärnten ein besonders dramatisches Scheitern der Freiheitlichen erlebt. Es gab zahlreiche freiheitliche Politiker, die wegen Korruption verurteilt wurden. Zumal Kärnten durch den Hypo-Alpe-Adria-Skandal Pleite war. Da haben sich Volkswirte schon mit der Frage beschäftigt, wie ein Bundesland in den Konkurs gehen kann. Außerdem fischt das Team Kärnten als Nachfolgepartei des Teams Stronach im selben Teich wie die FPÖ. Das alles hat einem sehr untypischen SPÖ-Mann, Peter Kaiser, den Weg bereitet. Er hat nichts von einem Volkstribun, wirkt eher wie ein Intellektueller, der dann nahe an die absolute Mehrheit gekommen ist. Kaiser wird bei der Kärnten-Wahl zwar wohl Stimmen verlieren, aber der erste Platz für die SPÖ steht außer Frage.

Deutschland hadert mit den Waffenlieferungen an die Ukraine. Österreich ist ja grundsätzlich neutral. Ist das auch bei der Ukraine tatsächlich so?

Im Gesetz steht "immerwährende Neutralität". Das heißt nicht immer und ewig, sondern mit Zweidrittel-Mehrheit könnte das Gesetz abgeschafft werden. Es war 1955 in gewisser Weise ein Mittel zum Zweck, damit die Sowjetunion dem Staatsvertrag und der Unabhängigkeit zustimmt. Unbestritten ist auch, dass die Neutralität seitdem realpolitisch viele Veränderungen erlebt hat, beispielsweise durch den EU-Beitritt. Die Neutralität ist inzwischen auf den engsten militärischen Bereich reduziert: Wir liefern keine Waffen und lassen keine fremden Truppenstützpunkte in Österreich zu. Die Neutralität ist inzwischen aber ein idealisierter Mythos, denn 80 Prozent der Österreicher stimmen ihr zu. Das führt dazu, dass keine größere politische Partei auch nur die Diskussion darüber anfangen will. Im Ukraine-Krieg verändert sich die Neutralität wieder und eigentlich gehört das diskutiert. Nur wie macht man das, wenn keine Partei sich an das Thema wagen will?

Im kommenden Jahr wird der Nationalrat gewählt. Wird Karl Nehammer das überstehen?

Die ÖVP hat das Schlimmste hinter sich. Deshalb ist Nehammer trotz schlechter Umfragewerte unumstritten. Allerdings auch deshalb, weil keine Alternative in Sicht ist. Wer will das auch schon, in eine Bergauf-Schlacht einsteigen? Die ÖVP ist zwar geschwächt mit minus 15 Prozent, machtpolitisch hat sie aber viele Handlungsoptionen. Auch die FPÖ wäre als Koalitionspartner realistisch, obwohl Nehammer dem FPÖ-Parteichef Herbert Kickl live im Parlament das "Du" abgesprochen hat. Die Sozialdemokraten können sich hingegen gleich spalten, wenn sie mit der FPÖ koalieren würden, also müssen sie die ÖVP als möglichen Partner sehen. Eine Ampel mit den Grünen und Neos wäre derzeit rechnerisch nicht möglich. Ich erinnere aber an meinen ersten Satz. Es kann noch viel passieren.