Ukraine-Krieg

Als Paar an der ukrainischen Front: "Wir leben und sterben zusammen"

Dieser Artikel wurde am 1. Juli 2024 mit dem Attenkofer-Zukunftspreis unserer Mediengruppe geehrt. Wir nehmen diese Auszeichnung zum Anlass, Ihnen den Text nun kostenlos in voller Länge anzubieten.


Marharyta Turchak und ihr Mann Oleksii Turchak  Fotos: Marharyta Turchak

Marharyta Turchak und ihr Mann Oleksii Turchak  

Ein Soldat schreit vor Schmerzen und Angst. Sein Bein hängt lediglich an einem Hautfetzen. Nach einer Minenexplosion an der Front ist seine Uniform von Blut durchtränkt. Der Soldat schwebt zwischen Leben und Tod. Er will im Krankenwagen rauchen. "Ich mache das Fenster auf", sagt Marharyta Turchak. Sie ist die Stimme, die ihm hilft seine Gedanken zu kontrollieren. Beide zünden sich eine Zigarette an.

Der Soldat soll vergessen, wo er ist was mit ihm passiert. "Rede mit mir!", fordert Turchak. Doch der Verletzte will nur eins: Wissen, ob er sein Bein verlieren wird. "Alles wird gut", beschwichtigt Turchak. "Die Ärzte werden ihr Bestes geben." Sie hofft, dass sein Bein noch zu retten ist, versucht den jungen Mann zu beruhigen. Sie fahren ins Krankenhaus. Ein Weg von zehn Minuten, der sich wie eine Stunde anfühlt, wie eine Ewigkeit.

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Marharyta Turchak (27) an der ukrainischen Front. Ihr Mann Oleksii Turchak ist seit 2014 als Rettungssanitäter tätig.

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Im Krankenhaus dann die böse Gewissheit: Das Bein des Soldaten muss amputiert werden. Turchak verabschiedet sich. Ein paar Tage später klingelt ihr Telefon, der Soldat. Ob er seine Schuhe im Rettungswagen vergessen hat? "Das war mein Lieblingspaar", sagt er, "ich möchte es zurück." Nein, keine Schuhe im Wagen. Turchak macht sich mit Kollegen auf den Weg, um ihm ein Paar derselben Marke zu kaufen. Und dann? Sollen sie dem Mann beide Schuhe schenken oder nur einen?

Als Turchak unserer Redaktion von diesem Vorfall am Telefon erzählt, ist sie vollkommen ruhig. Schmerzverzerrte und weinende Gesichter von der Front sind für sie zu einem nahezu alltäglichen Anblick geworden. Doch das war nicht immer so.

"Ich will mein Leben zurück"

Vor dem Krieg war Marharyta Turchak Redaktionsleiterin beim Nachrichtenportal Informator in der Millionenstadt Dnipro im Osten der Ukraine. Mit 25 hatte sie eine erfolgreiche Karriere und eine liebevolle Familie: Ehemann Oleksii, zwei Katzen, einen Hund. Sie wollte die Welt mit ihrem Mann erkunden - eine Reise nach Thailand war geplant. Turchak dachte, das Beste komme noch, sie setzte sich immer wieder neue Ziele. Im Alltag sei sie nicht belastbar gewesen, erzählt sie, "obwohl ich in der Arbeit große Verantwortung getragen habe".

Im Februar 2022, mit dem Angriffskrieg Russlands, änderte sich schließlich alles. Turchak ist im Krieg erwachsen geworden, verantwortungsvoll, diszipliniert, selbstbewusst. Sie schätzt nun, was sie hat. Doch ihre Augen leuchten nicht mehr, so wie früher. "Ich will mein Leben zurück", sagt sie. "Ich will wieder die Möglichkeit haben, in einem freien Land im Frieden mit meinem Liebsten, meinen Freunden und meiner Mutter zu sein." Sie will reisen. Nicht mehr ins Ausland. Turchak träumt davon, den Osten der Ukraine besuchen zu können, ohne die russische Flagge zu sehen.

"Einer will Musik hören, ein anderer eine rauchen"

Turchaks Mann Oleksii war 2014 als Rettungssanitäter bei dem bewaffneten Konflikt im Donbass im Einsatz. Zehn Jahre sind mittlerweile seit den Unruhen vergangen. Und doch kann er den Tag nicht vergessen, an dem er einen Soldaten nicht retten konnte. Er sei wegen einer Minenexplosion in den Armen von Oleksii gestorben. Heute, zehn Jahre später, quält ihn eine Frage: Hätte er den Soldaten doch noch retten können?

Danach arbeitete Oleksii als zertifizierter Erste-Hilfe-Trainer. Marharyta besuchte häufig die Kurse ihres Mannes und wusste mit der Zeit, mit welchen Handgriffen sie Leben retten kann. Sie ahnte jedoch, dass ihr Mann in den Krieg ziehen würde, wenn der Feind in ihr Land einmarschieren würde. "Wir haben uns dazu entschieden zusammen zu leben. Dann werden wir auch zusammen sterben", sagt sie.

Als es 2022 schließlich so weit war, zog sie mit ihm in den Krieg. Das Ehepaar war für den Abtransport verletzter Soldaten aus unsicheren Gebieten verantwortlich. Die ersten Tage waren furchtbar, sagt Turchak. Zunächst sah sie ihrem Mann nur dabei zu, wie er Injektionen gab oder einen Zugang für Infusionen legte. Dann musste sie selbst ran. Sie erinnert sich an den Tag, an dem sie einen Soldaten komplett alleine versorgen musste. An den Tag, an dem Oleksii ihr nicht helfen konnte. An den Tag, an dem sie ihre Angst, einen Soldaten nicht retten zu können, überwinden musste. "Wenn ich es beim ersten Mal nicht schaffe, schaffe ich es beim zweiten Mal", sagte sie sich. Sie musste lernen, mit Verletzten umzugehen, sie zu beruhigen. Wie den Mann, der sein Bein verloren hat. Jeder verwundete Soldat braucht eine persönliche Betreuung: Einer will Musik hören, ein anderer eine Zigarette rauchen. Im Laufe der Zeit lernte sie als Rettungssanitäterin, zu jedem Patienten einen Draht aufzubauen.

Turchak darf keine Angst haben. So könnte sie niemandem helfen. Sie versucht, alle Gedanken loszuwerden. In Momenten, in denen sie jemandem hilft, sei sie wie ein Roboter. Sie hat nur ein Ziel: den Menschen lebend in ein Krankenhaus zu bringen. "Wenn ich danach auf meine Hände schaue, zittern sie immer." Ist ihr Mann dabei, dann ist Turchak nicht so aufgeregt. Schließlich kann er ihr immer helfen oder einen Tipp geben. Im Rettungswagen herrscht oft Panik, sagt Turchak. Soldaten schreien oder weinen in der Angst zu sterben. In solchen Momenten braucht Turchak selbst psychische Unterstützung - um stark zu sein, während sie andere retten muss. Schließlich ist sie doch die Stimme, die einem Patienten hilft, nicht verrückt zu werden, wenn Angst den Kopf flutet. Sie fragt die Verletzten nach ihrem Haustier, nach der Familie. Sie bietet den Soldaten an, ihre Frau anzurufen, damit sie ihnen sagen können, dass sie jetzt in Sicherheit sind. Mit manchen singt sie.

Wenn Turchak dazu kommt, schminkt sie sich. Darauf will sie nicht verzichten. Nicht etwa aus Eitelkeit. Make-up erinnert Turchak an Normalität, an den Alltag vor dem Krieg. Sie fand einen Eyeliner, der gut fünf Tage hält. Schminken kann sie sich in einem verlassenen Haus nahe der Front, in dem sie oft schläft. Ein Schlafsack und eine Wärmeflasche halten sie warm. Dort liest Turchak auch ihre Lieblingsromane des amerikanischen Anarcho-Autors Chuck Palahniuk, am liebsten "Survivor".

Turchak raucht. Mehr als eine Packung täglich. Die Zigaretten beruhigen sie, wenn sie den Panzerbeschuss hört. Mit dem Beschuss steigt immer ihre Aufregung, ihr Puls. Sie ahnt, dass sie gleich wieder helfen muss; Soldaten mit Prellungen, Organschäden oder fehlenden Körperteilen versorgen muss.

"Jetzt an einer Krankheit zu sterben wäre zu dumm"

Eines Tages hielt ein Patient mit schweren Prellungen seinen Chevron in die Luft. Ein Abzeichen, das zeigt, dass er Russe ist, aber für die Ukraine kämpft. Aus seiner Nase und seinen Ohren rannte Blut. Er hatte sein Bewusstsein verloren. Als ihm der Chevron aus den Händen unter die Krankentrage fiel, musste Turchak danach suchen. Ohne den Chevron würde der Soldat nicht ins Krankenhaus wollen. "Das ist sehr wichtig für mich", erklärte der Soldat. Schließlich macht er dadurch erkennbar, für welche Seite er kämpft.

Dreimal half Turchak dem Soldaten bei schweren Prellungen. Als die Sanitäterin zum vierten Mal gerufen wurde, um dem Kämpfer zu helfen, sagte er: "Siehst du, wie oft du mich schon gerettet hast? Und ich lebe noch. Ich bin unsterblich." Das war ihre letzte Begegnung. Als Turchak Wochen später nach dem Kämpfer fragte, kam die Antwort: Der Soldat ist gestorben.

Stress, Unterkühlung und ungesunde Ernährung haben Turchak krank gemacht. "Jetzt daran zu sterben, nach allem, was ich überlebt habe - das wäre zu dumm", sagt sie. So verharrt sie seit vier Monaten in Dnipro und lässt sich behandeln.

Nebenbei gibt Turchak Selbstverteidigungskurse für Frauen. Und doch hat sie das Gefühl, dass sie mehr geben könnte; dass das, was sie leistet, nicht genug ist.

Ihr Mann ist währenddessen weiterhin an der Front. Früher war es für Turchak erträglicher. Da waren sie zusammen. Seite an Seite. Wären im Fall der Fälle zusammen gestorben. Stattdessen lebt sie nun mit der ständigen Angst, dass Oleksii etwas passieren könnte. "Ich liebe ihn. Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben könnte."


Dieser Artikel wurde mit dem Attenkofer-Zukunftspreis 2024 ausgezeichnet.