München/Unterföhring
Schießerei am Bahnhof: Polizei bangt um junge Kollegin
13. Juni 2017, 9:28 Uhr aktualisiert am 13. Juni 2017, 9:28 Uhr
Schlägerei in der S-Bahn. Das passiert oft. In vielen Großstädten, in Berlin, in München. An sich ein Routineeinsatz. Doch er endet in einer Schießerei. Denn einer der Randalierer kann sich die Dienstwaffe eines Beamten greifen.
Hubschrauber, Blaulicht. Polizei mit Maschinenpistolen. Sperrbänder. Schüsse sind gefallen. Großeinsatz am Bahnhof Unterföhring bei München. Der erste Gedanke wie so oft in diesen Zeiten: War es Terror? Doch die Polizei kann zumindest das ausschließen. Es war eine zunächst gewöhnliche Schlägerei in der S-Bahn, die eskaliert. Bilanz: vier Verletzte, darunter eine in Lebensgefahr schwebende Polizeibeamtin.
"Aus einem Routineeinsatz, den wir viele Hundert Mal im Jahr durchführen, ist plötzlich ein brutales Gewaltverbrechen geworden", sagt Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä hinterher betroffen. "Obwohl wir die Gefährlichkeit unseres Berufes kennen, macht uns die sinnlose Gewalt sprachlos."
Gegen 8.20 Uhr am Dienstagmorgen gehen Notrufe bei der Polizei ein. Fahrgäste berichten von einer Schlägerei in der S-Bahn. Plötzlich und ohne ersichtlichen Anlass habe er einem zugestiegenen Fahrgast mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Fahrgäste griffen ein. Erst einmal ein Routineeinsatz, wie der Präsident des Münchner Polizeipräsidiums, Hubertus Andrä am Mittwoch erklärt. Eine Streife mit einem Beamten und einer Beamtin rückt aus. Zunächst läuft alles wie immer, der Beamte beginnt, den Vorgang aufzunehmen. "Die erste Phase des Einsatzes lief völlig ohne Probleme ab", berichtet Andrä. Da greift einer der Randalierer den Polizisten plötzlich an, versucht ihn ins Gleisbett zu stoßen. "Die Situation war nicht nur ein Handgemenge, sondern tatsächlich ein heftiger Kampf", sagte der Polizeipräsident. Ein heftiger Kampf, bei dem beide anschließend zu Boden gehen.
Dabei geschieht etwas Ungewöhnliches: Der Randalierer schafft es, sich der Waffe des Beamten zu bemächtigen. Zwei Mal ist die Dienstpistole normalerweise im Holster gesichert. Womöglich habe der Beamte eine Sicherung gelöst, um im Ernstfall schnell an die Waffe zu kommen, erläutert Andrä. Doch auch dann sei es nicht leicht, die Waffe zu lösen. Zudem seien die Dienstpistolen mit einer Handballensicherung gesperrt. Aber: "Wer sich mit der Waffe auskennt, kann die Waffe bedienen", sagt Andrä. "Ob der Täter Vorkenntnisse hatte, muss geklärt werden." Es könne auch Zufall sein, dass er die richtigen Handgriffe machte. "Die bayerische Polizei trägt die Waffe immer geladen." Diese geladene Waffe nun also in den Händen eines Randalierers - die Beamtin reagiert geistesgegenwärtig. Der genaue Ablauf ist noch unklar, aber es muss etwa so gewesen sein: Sie schießt auf den Mann, trifft ihn. Er schießt auf sie - sie wird am Kopf getroffen. Die 26-Jährige schwebt in Lebensgefahr. Der Täter feuert weiter, schießt das Magazin leer. Zwei Passanten werden getroffen. Sie erleiden Durchschüsse am Arm und am Bein.
Der Schütze, der inzwischen dem Haftrichter vorgeführt wurde, hat sich noch nicht zu den Vorwürfen geäußert. Das teilte der Präsident des Münchner Polizeipräsidiums, Hubertus Andrä, am Mittwoch mit. Die Verletzungen der 26-Jährige seien weiterhin lebensbedrohlich und ernst, sagte Andrä außerdem. Angehörige und Kollegen würden umfangreich betreut.
Der 37-Jährige hatte nach bisherigem Stand bei seinem Vater in den USA gelebt und war zuletzt auf Europareise. Er sei am 12. Juni aus Athen in München angekommen, habe die Nacht am Flughafen verbracht und sei dann Richtung München gefahren. Zeugen hätten ausgesagt, er habe sich in der S-Bahn auffällig benommen, etwa Selbstgespräche geführt. Der Mann soll in den USA bereits wegen verschiedener Delikte strafrechtlich in Erscheinung getreten sein, es gibt Andrä zufolge Kontakt zu den US-Behörden.
Einmal mehr wird damit ein Bahnhof Schauplatz einer Gewalttat. Erst vor einem Jahr hatte ein Amokläufer am S-Bahnhof Grafing bei München einen Menschen getötet und drei verletzt. In Berlin attackierten kürzlich drei Jugendliche einen Mann, der sie für ihr rüpelhaftes Verhalten gerügt hatte. 2009 starb am Münchner S-Bahnhof Solln der Geschäftsmann Dominik Brunner, als er sich schützend vor Kinder stellte und in eine Schlägerei mit Jugendlichen verstrickt wurde.
Was nun sind die Gründe in Unterföhring, wer ist der Mann, der hier schoss? Aus Oberbayern stammend. Derzeit ohne Wohnsitz in Deutschland. Zum Zeitpunkt der Tat wohl nicht betrunken - jedenfalls nicht schwer. Ob Drogen oder Alkohol im Spiel waren, müssen Untersuchungen klären. Vor einigen Jahren war er von der Polizei mit einer kleinen Menge Cannabis aufgegriffen worden. Das Verfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Jetzt wird gegen ihn wegen versuchten Mordes ermittelt. Der Haftbefehl sei beantragt, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Florian Weinzierl.
Hunderte Menschen sind an diesem Morgen in den S-Bahnzügen, es ist die Flughafenlinie. Rund 200 werden Augenzeugen der schrecklichen Tat. Provisorisch wird eine Stelle für sie eingerichtet - es geht nicht nur um ihre Aussage. "Wichtig ist, dass jeder Zeuge der Tat von Profis angeschaut wird, wie es ihm geht", so Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins.
Die scheinbar immer allgegenwärtigere Gewalt zermürbt viele. "Ich habe ein mulmiges Gefühl", sagt Ursula L., die nicht mit ganzem Namen genannt werden möchte. Sie ist trotz der Meldungen im Radio zu ihrem Termin in einer Physiopraxis in der Nähe des Bahnhofs gefahren. "An Terror habe ich nicht gedacht. Aber ich habe mir Sorgen gemacht", sagt sie. "Das zeigt, wie schnell es einen treffen kann. Aber die Polizei ist ja da."
Rund 200 Beamte waren zeitweise im Einsatz. Denn der Täter kann zunächst fliehen. Wenig später allerdings stellen ihn an einem nahegelegenen Bürogebäude Kräfte der Münchner Polizei und der Bundespolizei. Er sei durch die Schussverletzung bereits gehandicapt gewesen, so da Gloria Martins. Damit hat die 26-jährige Polizistin womöglich Schlimmeres verhindert.
Nun bangen die Kollegen um das Leben der jungen Frau. "Der Zustand der Kollegin ist sehr ernst", sagt da Gloria Martins. "Das macht uns als Münchner Polizei sehr betroffen. Das macht sicher auch viele Münchnerinnen und Münchner sehr betroffen."
Polizeipräsident Andrä spricht von einem "sehr, sehr traurigen Tag". "Unsere Gedanken und unsere guten Wünsche gelten in erster Linie unserer schwerstverletzten Kollegin", "Wir alle hoffen, bangen und beten für sie." Die beiden anderen Verletzten seien in Behandlung, aber außer Gefahr.
Die Polizistin, die am Dienstag in Unterföhring bei München angeschossen wurde, schwebt nach wie vor in Lebensgefahr. Am Mittwochmorgen teilte ein Polizeisprecher mit, dass sich der Zustand der 26 Jahre alten Beamtin in der Nacht weder verbessert noch verschlechtert habe.
Das alles - warum? Der Anlass der Schlägerei ist unklar. Aber man darf vermuten: wahrscheinlich vergleichsweise nichtig.