Türkei und Syrien

Kaum noch Hoffnung: Mehr als 20.000 Tote nach Erdbeben

Immer mehr Tote in der Türkei und in Syrien - und Zehntausende könnten noch hinzukommen. Während die Retter in den Trümmern weiterhin vereinzelt Überlebende finden, schwindet zunehmend die Hoffnung.


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Eine Frau bricht zusammen, als Rettungskräfte in Adiyaman eine Leiche bergen.

Auch vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet entdecken Helfer noch weitere Überlebende unter den Trümmern eingestürzter Häuser. Immer wieder hörten Retter trotz der eisigen Kälte in der Region noch die Laute Verschütteter, die verzweifelt auf Hilfe warteten, berichtete eine Reporterin des staatlichen Senders TRT World. "Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt", zitierte sie einen Sprecher der Einsatzkräfte.

In der Provinz Kahramanmaras wurden der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge nach 92 Stunden eine Mutter und ihre Tochter gerettet. Zuvor war in der gleichen Region die fünfjähriges Mina lebend aus den Trümmern geborgen worden. "Ich bin so glücklich, dass wir sie gefunden haben", sagte einer ihrer Retter. In der Provinz Hatay wurde 88 Stunden nach den Erdstößen die zweijährige Fatima aus dem Schutt gerettet.

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Eine Siebenjährige ist in Idlib nach 50 Stunden aus den Trümmern gezogen worden.

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In Syrien fehlt nach den Erdbeben besonders die internationale Hilfe.

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Wie durch ein Wunder: Ein Südkoreanisches Rettungsteam rettet am Donnerstag ein Kleinkind aus den Trümmern eines Hauses.

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Flugzeuge der Bundeswehr haben Hilfsgüter ins türkische Incirlik gebracht.

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Rettungskräfte und Anwohner durchsuchen in Harem in der syrischen Region Idlib die Trümmer eingestürzter Gebäude.

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Ein Retter und sein Hund suchen im türkischen Kahramanmaras in den Trümmern eines Gebäudes nach Überlebenden.

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Ausrüstung, wie hier ein Bagger in Jenderis, gibt es in den betroffenen Gebieten in Syrien kaum.

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Rettungseinsatz an einem eingestürzten Haus in Kahramanmaras.

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Ein Transportflugzeug der Luftwaffe wird auf dem Gelände vom Fliegerhorst Wunstorf beladen.

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Durch das schwere Erdbeben zerstörte Gebäude im türkischen Malatya.

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Zivilisten suchen im türkischen Hatay nach Überlebenden.

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Rettungskräfte suchen in einem eingestürzten Gebäude im türkischen Malatya nach Überlebenden.

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Zwei Männer tragen eine Leiche aus einem zerstörten Gebäude im türkischen Adana.

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Mit allen Mitteln versuchen Rettungskräfte im syrischen Idlib die unter den Trümmern eingeschlossenen Menschen zu retten.

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Rettungskräfte suchen in den Trümmern von Gebäuden im türkischen Gaziantep nach Überlebenden.

Derweil steigt die Zahl der geborgenen Leichen weiter - unter den Tausenden eingestürzten Gebäuden im türkisch-syrischen Grenzgebiet gibt es vermutlich noch Zehntausende Erdbebenopfer. Bis gestern Abend wurden schon mehr als 20.000 Tote gemeldet. Nach Angaben der türkischen Vizepräsident Fuat Oktay sind in der Türkei inzwischen 17.664 Tote zu beklagen. In Syrien wurden bislang mehr als 3300 Tote gefunden. Hinzu kommen mehr als 75.000 Verletzte in den beiden Ländern.

Infolge des Richtwerts von 72 Stunden, die ein Mensch eigentlich höchstens ohne Wasser auskommen kann, geht die Hoffnung auf weitere Überlebende verloren. Nach Einschätzung von Fachleuten könnte die Zahl der Toten nach der Erdbebenkatastrophe erheblich steigen. Schnelle Hochrechnungen auf Basis empirischer Schadensmodelle ließen bis rund 67.000 Todesopfer erwarten, teilte gestern Andreas Schäfer vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit.

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in derselben Region.

Die Beben gehörten wahrscheinlich zu den 20 tödlichsten Erdbeben weltweit seit dem Jahr 1900, teilte das KIT mit. Schon 11 der 100 tödlichsten Erdbeben seitdem ereigneten sich demnach in der Türkei.

Mehr als 100.000 Helfer sind in der Türkei nach Regierungsangaben im Einsatz. Sie werden von Suchhunden unterstützt. Retter in Syrien vermuten, dass auch dort Hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Eines der am schwersten betroffenen Gebiete in dem Land ist die von Rebellen kontrollierte Region Idlib. Die Assad-Regierung beherrscht inzwischen wieder rund zwei Drittel des zersplitterten Landes. Die Erdbebenkatastrophe traf im Norden Gebiete unter verschiedener Kontrolle, was Helfern die Arbeit zusätzlich erschwert.

Die Bundesregierung arbeitet mit daran, die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien zu verbessern. Das Problem sei, dass das "Regime" zuletzt keine humanitäre Hilfe ins Land gelassen habe, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im WDR-Radio.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte forderte die sofortige Aussetzung der Sanktionen gegen Syrien. "Unsere Botschaft in dieser Krisensituation ist klar und eindeutig: Eine Erdbeben-Katastrophe ist keine politische Angelegenheit", sagte Generalsekretär Matthias Boehning laut Mitteilung gestern bei einer Kundgebung in Bonn.

Nach dem Willen mehrerer Abgeordneter von Bund und Ländern sollen Überlebende kurzfristig unbürokratisch bei Verwandten in Deutschland unterkommen können, wenn diese für den Lebensunterhalt der Angehörigen aufkommen. "Ich selbst habe mehrere Anfragen von Menschen in Deutschland erhalten, die gern ihren Angehörigen ohne Obdach helfen möchten", sagte der Vizechef der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Macit Karaahmetoglu (SPD), der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Das Auswärtige Amt teilte mit, dass türkische und syrische Staatsangehörige auch nach dem Erdbeben für eine Einreise nach Deutschland ein Visum benötigten.

Zur Unterstützung der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer im Nordwesten Syriens trafen gestern sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen ein. Aktivisten in Syrien berichteten, es handle sich um Hilfslieferungen, die schon vor dem Erdbeben geplant und nur davon aufgehalten worden seien. Dringend benötigte Ausrüstung für die Rettungsteams in Syrien sei deshalb nicht angekommen - stattdessen Güter wie etwa Waschmittel. "Das ist sehr enttäuschend und beschämend", sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der dpa.

Der einzige Grenzübergang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbeben eine Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. 90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden.

Angesichts der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer im Nordwesten Syriens verlangte UN-Generalsekretär António Guterres die Öffnung weiterer Grenzübergänge aus der Türkei. "Wir brauchen massive Unterstützung und deshalb würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn der Sicherheitsrat einen Konsens erzielen könnte, um die Nutzung von mehr Übergängen zuzulassen, da wir auch unsere Kapazität erhöhen müssen", sagte Guterres gestern in New York.

Die ersten Hilfsflüge der Bundeswehr starteten gestern vom niedersächsischen Wunstorf aus und landeten in der Türkei. Die türkische Regierung habe Materialien zur Unterbringung der vom Erdbeben betroffenen Bevölkerung bei der Bundesregierung angefordert, sagte der Präsident des THW, Gerd Friedsam. Zuvor waren schon Teams verschiedener Hilfsorganisationen in die Türkei geflogen. Frankreich wollte noch gestern ein Feldlazarett schicken, in dem mehrere Hunderte Verletzte pro Tag behandelt werden können. Israelische Rettungskräfte bauten bereits ein Feldlazarett in der Türkei auf.

Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ gestern vom Parlament in Ankara den erdbebenbedingten Ausnahmezustand für drei Monate bestätigen. Das Dekret wurde im Amtsblatt veröffentlicht - damit ist der Ausnahmezustand in Kraft. Die Maßnahme umfasst die zehn Provinzen, die auch vom Erdbeben getroffen wurden.

Erdogan hatte gesagt, der Ausnahmezustand werde auch helfen, gegen die vorzugehen, die "Unfrieden und Zwietracht stiften". Es habe zum Beispiel Plünderungen gegeben, die nun verhindert werden könnten. Erdogan hatte den Ausnahmezustand schon am Dienstag angekündigt.

Mit dem Ausnahmezustand können laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu in den betreffenden Regionen etwa öffentliche Einrichtungen, Organisationen oder "juristische und natürliche Personen" in der Region dazu verpflichtet werden, beispielsweise Ausrüstung, Grundstücke, Gebäude, Fahrzeuge oder Medikamente abzugeben.