Interview
Flüchtlingsrettung im Mittelmeer: Ein Militärdekan der Marine erzählt
4. März 2016, 10:49 Uhr aktualisiert am 4. März 2016, 10:49 Uhr
Michael Gmelch ist katholischer Militärdekan der Marine in Flensburg, hat Wurzeln in der Oberpfalz, und war mit den Soldaten als Seelsorger im Mittelmeer, um schiffbrüchige Flüchtlinge zu retten. Über seine Erfahrungen in dieser Zeit hat er ein Buch geschrieben, das jetzt erschienen ist. Im Interview spricht er über die Rettungsmission und über die Herausforderungen durch die Flüchtlinge - auch für die Kirchen.
Herr Gmelch, was passiert, wenn ein Schiff Flüchtlinge im Mittelmeer entdeckt?
Gmelch: Es ist nicht wie im Abenteuerfilm, wo jemand im Ausguck steht und winkende Menschen im Fernglas entdeckt. Wenn ein Flüchtlingsboot die Hoheitsgewässer eines Landes - in unseren Fällen war es Libyen - verlässt, setzt es per Satellitentelefon einen Notruf ab. Der wird in der römischen Koordinierungsstelle aufgefangen. Dann sendet das Rettungscenter MRCC das nächstgelegene Rettungsschiff los. Bis es da ist, kann es Stunden dauern.
Wie geht es weiter?
Gmelch: Die Bootsflüchtlinge werfen dann oft alles über Bord: Navigationshandys und Benzinkanister. Manchmal stechen sie kleine Löcher in die Schlauchboote. So sind sie definitiv in Seenot - und müssen nach internationalem Seerecht gerettet werden.
Was war Ihre Aufgabe an Bord des Marine-Rettungsschiffs?
Gmelch: Ich bin eigentlich als Seelsorger für die Soldaten an Bord gegangen. Man wusste ja nicht, was uns begegnet: Leichen im Wasser? Aber als dann im Lauf des Einsatzes Verstärkung für die Stammbesatzung gesucht wurde, habe ich mich freiwillig gemeldet.
Hilft nicht jeder mit, wenn Bootsflüchtlinge ankommen?
Gmelch: Für viele Dienste wurde spezielles Funktionspersonal eingeschifft. Es ist aus hygienischen und sicherheitstechnischen Gründen nicht vorgesehen, dass jeder Kontakt zu Flüchtlingen hat. Über ihre Aufnahme an Bord erfahren viele Soldaten nur über Lautsprecherdurchsagen.
Aber Sie hatten Kontakt zu Flüchtlingen.
Gmelch: Ich wurde zur Essensausgabe eingeteilt. Als wir auf ein Boot stießen, stand ich viele Stunden an Deck. Als die Flüchtlinge die Stelling heraufkamen, wurden sie zuerst medizinisch untersucht und dann lief die Prozedur des "In-processing" an. Ganz zum Schluss liefen sie zum Verpflegungspunkt und bekamen von mir etwas zu trinken, zu essen, eine Decke, vielleicht ein paar Windeln oder ein Gläschen Babynahrung. Ich hatte mit 500 Leuten ganz nahen Kontakt, von Angesicht zu Angesicht. Ich habe alle an der Hand gehalten und auf ein Bändchen geschrieben, wer schon etwas bekommen hat, damit sich die Starken nicht fünfmal für Essen anstellen.
Konnten Sie mit den Menschen sprechen?
Gmelch: Ich konnte fragen, wie sie heißen, wo sie herkommen, wie lange sie unterwegs sind, was sie bezahlt haben. Viel Zeit war nicht. Und so geht das Stunden.
Würden Menschen, die kritisch gegenüber Flüchtlingen eingestellt sind, ihre Meinung ändern, hätten sie solche Begegnungen?
Gmelch: Ich kenne ein älteres Ehepaar, konservative Katholiken mit Häuschen und drei Kindern. Die haben Kontakt zu Flüchtlingen aus Afghanistan - und lassen auf sie nichts kommen! Das Paar hilft ihnen beim Arzt oder beim Amt - und regt sich über alle auf, die hetzen. Ängste entstehen oft, weil man keine Anschauung hat, weil man nur Parolen hinterherläuft und Emotionen unreflektiert Recht gibt.
Wie lange waren Sie auf der "Berlin"?
Gmelch: 30 Tage. In dieser Zeit haben wir zusammen mit der Fregatte "Hessen" 3 419 Flüchtlinge gerettet. Das waren keine testosteronstrotzenden aggressiven Männer. Im Gegenteil. Das waren müde, freundliche Menschen. Auch viele Frauen, Jugendliche und Kinder waren dabei. Manche haben ein Holzkreuz um den Hals getragen oder einen Rosenkranz. Manche haben die Schuhe auf dem Schiff ausgezogen als Zeichen der Ehrerbietung. Muslime haben ihre Gebete verrichtet. Am Ende haben wir sie in einem Hafen abgegeben. Da habe ich mir abends Gedanken gemacht: Was passiert jetzt mit ihnen?
Sind Sie dabei wütend geworden?
Gmelch: Wir kippen - salopp gesagt - die Flüchtlinge den Italienern vor die Füße und sind froh, dass wir sie wieder loshaben. Wir fischen sie aus dem Meer, wirklich wie die Menschenfischer der Bibel! Wir tun etwas, das Jesus wollte: Menschen aus dem Schattenreich des Todes holen. Nur können wir dabei nicht stehen bleiben. Europa feilscht um Quoten wie auf einem Basar. Ich habe mich gefragt, was können wir Christen jetzt tun?
In ihrem neuen Buch "Refugees Welcome" schreiben Sie, die Flüchtlingskrise könne für die Kirchen eine Chance sein. Inwiefern?
Gmelch: Wir haben uns lange fast nur noch mit uns selbst beschäftigt: Zölibat, evangelisches Abendmahl und katholische Eucharistie, Frauenordination, wenige Priester, Pastoralverbünde. Jetzt kann die Kirche sein, was sie sein soll: ein heiliges Werkzeug zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Wir können nicht unschuldig im Lauwarmen bleiben und zugucken. Die Großkirchen haben 46 Millionen Mitglieder in Deutschland. Das ist eine gesellschaftsprägende Größe, auch wenn nur ein Bruchteil aktive Christen sind.
Es gibt den Reflex zu fürchten, dass die muslimische Einwanderungswelle die christliche Identität gefährde ...
Gmelch: Wir müssen uns mal damit beschäftigen, was christliche Identität ist. Nur Weihnachten, Kirchengebote und traditionelle Folklore? Ich habe Bedenken, dass es zu viele Christen gibt, die nicht wissen, was sie glauben. In der katholischen Oberpfalz, meiner Heimatdiözese in Bayern, hieß Ökumene lange Zeit, ab und an einen Gottesdienst mit den paar evangelischen Mitchristen zu feiern. Wir sind jetzt interreligiös in einer ganz anderen Liga unterwegs. Das haben viele noch gar nicht gecheckt.
Was kann man da tun?
Gmelch: Die Leute interkulturell schulen. Es gibt schon Jugendakademien und Studiengänge zum Thema interkulturelle Kompetenz. Das ist die Chance. Ich bin gespannt, wie wir in zehn Jahren sprechen.
Im April gehen Sie an Bord der "Bonn", es geht in die Ägäis. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in den nächsten Einsatz?
Gmelch: Ich freue mich darauf, unter anderem mit den jungen Offiziersanwärtern der Marineschule und den Soldaten der Stammbesatzung darüber zu reden, wie es ihnen mit der Seenotrettung geht und welche Fragen die gesamte Mission aufwirft.
Info:
Dr. Dr. Michael Gmelch war bei seiner ersten Kaplanstelle in Berching (Kreis Neumarkt/Opf.) eingesetzt. Anschließend absolvierte er ein weiterführendes Studium in Rom und eine Zusatzausbildung im Bereich Krankenhausseelsorge. Von 1993 bis 2003 war er Krankenhauspfarrer am Klinikum Nürnberg-Süd. Danach war er drei Jahre Seelsorger der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in New Delhi/Indien. 2007 wurde er Krankenhauspfarrer im Klinikum Neumarkt/Opf. Seit 2009 ist er für die Militärseelsorge freigestellt, seit 2011 ist er Militärdekan.