Innere Sicherheit
Bundesbürger rüsten auf - wackelt das Gewaltmonopol des Staats?
9. Februar 2016, 15:48 Uhr aktualisiert am 9. Februar 2016, 15:48 Uhr
Reizgas und Schreckschusspistolen boomen. Hunderttausende Bundesbürger dürfen diese Waffen in der Öffentlichkeit mit sich herumtragen. Experten sind besorgt.
Viele Bundesbürger rüsten auf. Sie kaufen Reizgas und Schreckschusswaffen - und besorgen sich die Lizenz, diese Waffen auch in der Öffentlichkeit zu tragen. Bis Ende Januar haben sich 301 000 Menschen dafür mit einem kleinen Waffenschein ausgestattet, gut 21 000 mehr als noch zwei Monate zuvor. Was steckt dahinter - und was halten Fachleute von der Entwicklung?
Landauf, landab häufen sich Vorfälle mit frei verkäuflichen Waffen. In Köln versprühte ein junger Mann bei einer Karnevalsparty in einem Club Pfefferspray auf der Tanzfläche. Atemnot und Augenprobleme bei mehreren Gästen waren die Folge. In Stuttgart sprühten Unbekannte Reizgas durch eine S-Bahn. In einer Hauptschule in Remscheid verpasste eine Schülerin Mitschülern eine Ladung CS-Abwehrspray - 16 Schüler mussten sich behandeln lassen.
Als eine Schülerin in Gifhorn aus Versehen den Auslöser ihres Sprühgeräts betätigte, war es der dritte Fall in Niedersachsen innerhalb von gut einer Woche. Tags zuvor jagte ein Mann im bayerischen Alteglofsheim zwei Passanten einen gehörigen Schrecken ein - er schoss mit einer Pistole aus einer geöffneten Terrassentür. Die alarmierte Polizei stellte fest, dass der Mann eine Schreckschusswaffe ausprobieren wollte.
Die Händler berichten von einem Boom frei verkäuflicher Waffen. "Seit Mitte November ging das stark nach oben", sagt der Geschäftsführer des Verbandes deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler, Ingo Meinhard. Ausgelöst worden sei der Anstieg durch die Terroranschläge von Paris. "Und im neuen Jahr ist der Kundenandrang nochmal in die Höhe gegangen." Nicht zuletzt die sexuellen Übergriffe vor dem Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht hätten dafür eine Rolle gespielt.
Viele Kunden kauften heute "anlassbezogen" - anders als üblich, als etwa Reizgas klassischerweise verstärkt im Herbst von Joggern mit dunkler Laufstrecke nachgefragt wurde, wie Meinhard sagt. Die Kundschaft stamme aus der Mitte der Gesellschaft.
Bei der Polizei hält man die Entwicklung für gefährlich. "Wir sehen das mit Sorge", sagt Sascha Braun von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). "Personen, die sich selbst bewaffnen, sind oft danach auch risikobereiter." Schreckschusspistolen sehen zudem oft täuschend echt aus - viele Polizisten bewegten selbst die Hand zur Waffe, wenn sie etwa zu einem Streit dazukämen, bei denen einer eine Schreckschusswaffe gezogen hat.
"Solche Gerätschaften vermitteln nur eine Scheinsicherheit", sagt der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. "Man muss mit einer Waffe schon sehr vertraut sein, wenn man sie vernünftig einsetzen will." Steht der Wind falsch, kann Reizgas schnell ins eigene Auge gehen.
Braun und Wendt sprechen von einer Verunsicherung der Gesellschaft - und pochen darauf, dass der Staat das Gewaltmonopol haben müsse. Auch die Grünen-Sicherheitsexpertin Irene Mihalic meint: "Es wäre gefährlich, wenn das staatliche Gewaltmonopol nach und nach ausgehöhlt wird." Doch ist das Bedürfnis, sich zu schützen, das einzige Motiv zum Erwerb solcher Waffen und Waffenscheine? Der Berliner Kriminologe Claudius Ohder hat da Zweifel. Dass Schreckschusswaffe und Pfefferspray vor ernsten Bedrohungen schützen, dürften doch wohl nur die wenigsten Menschen annehmen, meint er.
Ohder sieht die Selbstbewaffnung als ein Teil eines gesellschaftlichen Flickenteppichs aus Bürgerwehren, Populismus, Abneigung gegen Staat und Politik. Der Professor spricht von "Signalkommunikation". Eine Rolle spiele dabei das Signal, dass Politik und Polizei die Bürger angeblich nicht schützen. Bei vielen spiele wohl auch das Motiv eine Rolle: "Wir wehren uns gegen das, was Flüchtlinge an Unsicherheit mit sich bringen." Auch Ohder zeigt sich besorgt - den Waffenkauf sieht er bei vielen als Trotzreaktion. "Man kann nur hoffen, dass sie ihre Waffen nicht benützen."