Reportage zur Corona-Demo
Berlin-Momente zwischen Woodstock und Wehrmacht
3. September 2020, 8:00 Uhr aktualisiert am 3. September 2020, 8:15 Uhr
Samstag, 14.37 Uhr, Platz der Republik in Berlin-Mitte. Hubschrauber über der Stadt. Am Straßenrand die Mannschaftstransporter der Polizei aufgereiht.
An der Brücke zur Wiese vor dem Reichstag die erste Absperrung. Einige verspätete Demo-Teilnehmer bekommen die Auskunft, dass sie einen Umweg zur Straße des 17. Juni nehmen müssen. Mehrere Kilometer weit die Spree entlang, bis zum nächsten Übergang. Eine halbe Stunde zuvor hatten offizielle Stellen verkündet, dass "die Corona-Demo aufgelöst" sei. Gemeint war der Protestmarsch. Die Kundgebung findet statt.
Der Park um Kanzleramt und Reichstag ist nahezu leer. Auf einer Bühne davor spricht ein Mann aus Argentinien von Verschwörungen zur Versklavung der Menschheit. Davor werden in einer Menge aus kaum 500 Besuchern schwarz-weiß-rote Flaggen geschwenkt. Das formulierte Weltbild scheint übersichtlich: Der zweite Weltkrieg gegen Deutschland, der niemals aufgehört habe, eine orchestrierte Zerstörung der Wirtschaft durch die Corona-Maßnahmen als jüngster Schachzug. Hier scheinen sich die zu treffen, die "den Sturm auf Berlin" wollen.
Einige Teilnehmer sehen aus wie auf einer Anti-Atomkraft-Demo
Weiter über eine nahezu leere Straße, die von Polizeiautos gesäumt ist. Am Tiergarten findet die eigentliche Kundgebung statt. Einige Teilnehmer sehen wie Studenten aus, die bei den nächsten Hochschulratswahlen für eine linke Liste kandidieren. Viele der Demo-Teilnehmer könnten samt Ausstattung direkt aus einer Anti-Atomkraft-Demo gepflückt sein. Oder einer Demo gegen ein Freihandelsabkommen. Dazwischen und vor allem am Straßenrand: Langhaarige, teils ergraute Männer und Frauen mit John-Lennon-Nickelbrillen, Pace-Fahnen, Friedenssymbolen und Zitate aus Reinhard-Mey-Liedern auf selbstgemalten Schildern. Manches sieht aus wie damals in Woodstock. Der Moderator in diesem Abschnitt des Kundgebungsgeländes ruft im 15-Minuten-Takt zu Meditationen und Gebeten auf. Die Hippies machen mit, mit geschlossenen Augen und teils entrückten Mienen. Ob zukünftige Generationen diese Proteste wohl ähnlich idealisieren könnten, wie die Kundgebungen und Demos der Jahre 1968? Die Meinung hat sich in den Jahrzehnten danach gedreht. Wird später jemand stolz sein, hier in der Menge gestanden zu haben?
Aber dann sind da die Anderen. Ein schwarz-weiß-roter Fahnenblock zieht inmitten der Regenbogenfahnen vorbei, daneben mehrere Fahnen des alten Preußen, schwarz-weiß mit gekröntem Adler. Hardcore-Nationalisten als Trittbrettfahrer oder als Teil der Anti-Corona-Bewegung?
Samstag, 15.31 Uhr. Mehrfach fordern die Veranstalter auf, die Sicherheitsabstände einzuhalten: "Wir können nicht anfangen, bevor wir nicht genügend Abstand haben", schallt es über die Lautsprecher. "Lasst uns ganz Berlin voll machen." Langsam lockert sich die Menge auf, zwischen Fahnen und Haaren werden wieder größere Flecken Asphalt sichtbar.
Lesen Sie im zweiten Teil unserer Reportage unter anderem den Bericht vom Auftritt des Kennedy-Neffen Robert Kennedy Jr.
Robert Kennedy: "Ich sehe hier keine Nazis"
Rund zehn Minuten später erklären die Veranstalter die Versammlung für eröffnet. Gleich als erste Amtshandlung sprechen sie das Vermummungsverbot auf Demos an: "Wer vermummt teilnimmt, der verbirgt etwas." Die Teilnehmer sollen den gerade aufgesetzten Mund-Nasen-Schutz wieder abnehmen. Viele tun es.
Dann tritt der Ehrengast der Versammlung ans Mikrofon: Robert Kennedy Jr., Neffe des getöteten US-Präsidenten John F. Kennedy. In seiner Heimat ist der Spross der einflussreichen Kennedy-Familie durchaus umstritten. Seine Thesen über ein Kartell der Pharma-Unternehmen haben ihn weit aus dem US-Mainstream herauskatapultiert. Die Stimme ist brüchig. Fast schmerzerfüllt: "Zu Hause schreiben die Zeitungen, ich würde hierherkommen, um vor einigen tausend Nazis zu sprechen. Aber wenn ich auf diese Menge schaue, sehe ich keine Nazis. Ich sehe das Gegenteil. Ich sehe Menschen, die die Demokratie lieben." Für die Mehrzahl der Teilnehmer könnte das zutreffen. Die schwarz-weiß-roten Fahnen sieht der Präsidenten-Neffe wohl nicht. Oder er kennt sie nicht.
Robert Kennedy spricht von den Verflechtungen zwischen der Politik und der pharmazeutischen Industrie: "Wir wollen Anführer, die für uns arbeiten und nicht für Big Pharma. Wir wollen Anführer, die uns nicht belügen und die nicht mit Angst regieren." Robert Kennedy ist in seiner Heimat als Kritiker von Impfungen für Kinder bekannt: "Mein Onkel kam hierher, weil Berlin damals die Frontlinie gegen den Totalitarismus war. Und es ist heute wieder genauso." Hier kommt der Berlin-Moment des Neffen. Er wiederhole mit Stolz den Ausspruch seines Onkels - das "Ich bin ein Berliner" klingt bei ihm etwas anders, die deutsche Aussprache ist sauberer, souveräner, geübter. Die Menge klatscht.
Nach dem Kennedy-Neffen wieder die Veranstalter am Mikrofon. Sie laden ein zu dem zwischenzeitlich aufgelösten Corona-Protest-Camp. Nichts Geringeres als eine neue Verfassung, basierend auf dem Grundgesetz, wollen sie dort nach eigener Aussage entstehen lassen. Wieder Applaus.
"Wir stellen eine Frage"
Eine neue Verfassung? Einigen der Demo-Teilnehmer geht das nicht nur zu weit, sondern auch am Thema vorbei. "Wir formulieren einen Zweifel, eine Frage", sagt mir einer der Teilnehmer, dunkle Hautfarbe, die Vorfahren möglicherweise indischer Herkunft: "Wir formulieren ein Misstrauen gegen Politiker, die seit Monaten wenig erklären und viel verordnen. Deren Erklärungen sich zuweilen widersprechen. Wir protestieren gegen den permanenten Krisenmodus. Wir fordern ein, dass mehr als nur drei, vier Experten gehört werden." Auch die Wortwahl gefalle vielen nicht mehr: "Zügel werden angezogen - allein schon wegen der Formulierungen sollten die aktuell Regierenden Protestmärsche aushalten müssen."
Gegen 17 Uhr verlassen die ersten Familien mit Kindern die Demo. Für viele hat sie gerade erst begonnen. Diesem Protest wohnen augenscheinlich sehr viele Kräfte und Agenden inne. Er erscheint wie ein dauernder Tanz auf der Klinge - der ideologische Abgrund nur einen Schritt entfernt.