Katastrophe
Baerbock und Faeser im Erdbebengebiet in der Türkei
21. Februar 2023, 5:02 Uhr aktualisiert am 21. Februar 2023, 17:26 Uhr
Grotesk schief steht das mehrstöckige Haus an der Kreuzung, durch fehlende Wände kann man in ehemalige Wohnungen und Geschäfte schauen. Es sieht mit den tiefen Rissen in den Wänden aus, als könne es jederzeit in sich zusammenstürzen. Ein paar hundert Meter weiter, in der ehemaligen Einkaufsstraße der kleinen Stadt Pazarcik, sind die Gebäude teils wie Kartenhäuser zusammengefallen, als am 6. Februar die schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet Teile des Ortes zerstören. In Pazarcik lag das Epizentrum der ersten Erdstöße damals.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) haben tiefe Sorgenfalten auf der Stirn, als sie am Dienstag Bilanz ihres insgesamt knapp siebenstündigen Besuches in der Katastrophenregion ziehen.
"Man spürt an jedem Ort, wie dieses Beben noch in den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes drinsteckt", sagt Baerbock. Zu Beginn des Besuches in einer Zeltstadt für Erdbebenopfer in Pazarcik habe sie selbst deutlich ein Nachbeben gespürt, erzählt sie betroffen. Faeser ergänzt: "Wir haben furchtbares Leid hier erleben müssen." Die Menschen hätten ihre Angehörigen und ihr Dach über dem Kopf verloren. "Es hat einem wirklich gerade das Herz zerrissen."
Vor gut zwei Wochen hatten zwei starke Beben die Südosttürkei und den Norden Syriens erschüttert. Mehr als 48.000 Menschen sind ums Leben gekommen, davon mehr als 42.000 in der Türkei. Nach Angaben der Vereinten Nationen war die Erdbeben-Katastrophe vom 6. Februar nicht nur nach Todesopfern das schlimmste in der türkischen Geschichte. Auch die Berge an Schutt und Geröll seien beispiellos, sagte Louisa Vinton, die Vertreterin des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der Türkei, in einem UN-Briefing. Tausende weitere Opfer und Schäden gab es in Syrien. Vinton bezog sich nur auf die Türkei.
Baerbock und Faeser sagen den Betroffenen im türkisch-syrischen Grenzgebiet bestmögliche akute Hilfe und anhaltende Unterstützung beim Wiederaufbau zu. "Unser Mitgefühl erschöpft sich nicht in Worten und es wird auch nicht nachlassen, wenn die Katastrophe und ihre Folgen in den Nachrichten von anderen Schlagzeilen verdrängt werden", verspricht Baerbock.
Die Reise der deutschen Ministerinnen soll auch ein Zeichen sein - sowohl an die Betroffenen in der Grenzregion, wie an die große türkische Gemeinde Zuhause in Deutschland. In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
Nachdem die Bundeswehr mit mehr als 20 Flügen über 340 Tonnen Hilfsmaterial in die Türkei gebracht hatte, transportierte die Luftwaffe erneut 13 Tonnen Hilfsgüter in die Türkei. Darunter seien 100 Zelte, 400 Feldbetten und mehr als 1000 Schlafsäcke, sagt Faeser. Die Hilfsgüter des Technischen Hilfswerks (THW) werden an den türkischen Katastrophenschutz übergeben. Vom Flughafen Gaziantep aus werden Hilfslieferungen sowohl für die Türkei als auch für den Nordwesten Syriens abgewickelt.
In der Zeltstadt, die die Ministerinnen in Pazarcik besuchen, leben etwa 1700 Erdbebenopfer, darunter rund 250 Kinder. Fast 1000 Gebäude stürzten bei den Beben in der Provinz Kahramanmaras mit ihren knapp 1,18 Millionen Einwohnern ein. Etwa 10.800 Häuser wurden schwer beschädigt und müssen abgerissen werden. Bislang wurden hier mehr als 10.000 Tote geborgen, mehr als 15.000 Menschen erlitten Verletzungen.
Dutzende weiße Wohnzelte stehen jetzt in dem früheren Erholungspark von Pazarcik. Die Menschen hier heizen mit Holzöfen, man riecht es sofort. Nachts wird es bis zu minus acht Grad kalt, berichtet die Allgemeinchirurgin Hansi Sobez. Sie ist medizinische Leiterin der deutschen Hilfsorganisation humedica im Camp.
Acht bis neun Menschen würden jeweils in den Zelten der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad übernachten. Vor allem mit Atemwegserkrankungen hätten die Erdbebenopfer nun zu kämpfen, Husten, Schnupfen, Ohrenschmerzen. Aber auch Traumatisierungen gebe es. Sobez erzählt von einem Vater, der seinen 18 Jahre alten Sohn bei den Beben verloren hatte und nicht weiterleben wollte. "Wir sind da, wir sprechen mit den Menschen, halten Hände", sagt die Ärztin.
Im wiedereröffneten Visaannahmezentrum von Gaziantep und bei einem neuen Visaannahmebus informieren sich Baerbock und Faeser über Abläufe und Probleme. Erdbebenopfern soll mit Drei-Monats-Visa ermöglicht werden, übergangsweise bei nahen Angehörigen in Deutschland unterzukommen. Der Bus soll künftig in besonders betroffene Orten fahren. Dort können Visumsanträge gestellt und biometrische Daten erfasst werden. Das soll den Menschen weite Fahrten für einen Antrag ersparen.
Insgesamt wurden nach Angaben des Auswärtigen Amts bisher 96 Schengen-Visa nach dem beschleunigten Verfahren für türkische Staatsangehörige erteilt. Zudem seien bis Montag 15 Anträge auf dauerhafte Familienzusammenführung gestellt worden. Dem stellvertretenden migrationspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Hakan Demir, geht das viel zu langsam. "Wir müssen stärker auf die Tube drücken", forderte er im Deutschlandfunk.
Kritik am Verfahren war laut geworden, weil trotz des Versprechens einer unbürokratischen Hilfe für die Visaerteilung etwa ein gültiger Pass und ein biometrisches Foto benötigt werden. Kritiker monieren, diese seien angesichts der Zerstörung oft nicht zu beschaffen.
Deutschland verdoppelt die Finanzhilfe für die Erdbebenopfer im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Die Bundesregierung Stelle zusätzlich 50 Millionen Euro zur Verfügung, kündigen Baerbock und Faeser an. Insgesamt stellt Deutschland damit seit den verheerenden Erdstößen vom 6. Februar 108 Millionen Euro zur Verfügung. Von den 50 Millionen Euro, die zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, sollen demnach 33 Millionen Betroffenen in der Türkei zugutekommen, 17 Millionen jenen in Syrien.