Salzburger Festspiele
Teodor Currentzis dirigiert Schostakowitschs "Leningrader"
28. Juli 2019, 17:22 Uhr aktualisiert am 28. Juli 2019, 17:22 Uhr
Dmitri Schostakowitschs Leningrader Symphonie mit dem Orchester des SWR im Großen Festspielhaus
Diese Symphonie ist laut und brutal, und nicht nur in der Invasions-Episode, mit der Dmitri Schostakowitsch den "Bolero" seines Kollegen Maurice Ravel zu übertrumpfen versuchte. Ein Motiv aus Franz Lehàrs Operette "Lustiger Witwe" wird da über einem durchgehenden Trommelrhythmus zu höhnischem Lärm gesteigert, um dann von der vollen Gewalt eines entfesselten 120-köpfigen Orchesters erschlagen zu werden. Der "Bolero" nimmt sich dagegen aus wie ein gepflegter Brahms.
Natürlich kann man so tun, als sei die 1941 im von den Deutschen belagerten und ausgehungerten Leningrad entstandene Symphonie Nr. 7 ein ganz normales Orchesterwerk. Teodor Currentzis ist für dergleichen nicht bekannt. Er sucht die Extreme, und nirgendwo wird er in der Klassischen Musik fündiger als in diesem Werk, das den deutschen Überfall auf die Sowjetunion darstellt, ihn insgeheim mit dem stalinistischen Terror überblendet und den Hörer mit dem ganz großen russischen Pathos überwältigt.
Rammstein goes Classic
Zum Abschluss einer längeren, von publizistischen Superlativen begleiteten Tournee brachte Currentzis die Siebte von Schostakowitsch mit dem SWR Symphonieorchester ins Große Festspielhaus von Salzburg. Schon in den ersten Sekunden, beim grotesken Allegretto-Hauptthema der Streicher, drängte sich die Frage auf, wie zarte Passagen - die es in dieser Symphonie auch gibt - neben solchen Kraftakten noch wirken sollten. Aber Currentzis schafft es, die Spannung zu halten, weil sein Orchester exzellente Bläser hat. Die spielen nicht nur unglaublich laut, sondern auch sehr leise und können etwa in der zwielichtigen Dämmerung vor der Invasions-Episode eine gefährliche Ruhe vor dem Sturm herstellen.
Lesen Sie auch unser Pro und Contra zu einer Tschaikowsky-CD von Teodor Currentzis
Danach ereignete sich eine Steigerung, die jeder, der das gehört und gesehen hat, sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Currentzis ließ sein Orchester zwischenzeitlich immer wieder im Stehen spielen, um die Durchhörbarkeit innerhalb der extremen Lautstärke zu steigern und die Musiker dazu zu bringen, ganz aus sich herauszugehen.
Das SWR Symphonieorchester verwandelte sich dabei immer wieder in eine stehende Marching Band - ähnlich wie kürzlich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons am Schluss von Ottorino Respighis unter Faschismusverdacht stehenden "Pini di Roma". Und in beiden Fällen gelang es, den Hautgout totalitärer Monumentalkunst dialektisch in einer Demonstration von Orchestervirtuosität aufgehen zu lassen.
Gebannt vom Schamanen
Es war möglich, die Aufführung als Klassik-Version eines Rammstein-Konzerts zu goutieren, sich am geilen Krach zu erfreuen und sich vom Schamanen bannen zu lassen, der da vor dem Orchester tanzt und ein schwarzes Hemd durchschwitzt. Aber Currentzis bietet nicht nur eine Show, sondern eine ernsthafte, vielschichtige Schostakowitsch-Interpretation. Der verordnete Optimismus, der im langsamen Satz den Choral unterbricht, wirkte geradezu obszön fröhlich. Am Ende wurde deutlich, dass dem Dur-Geschmetter dieser Apotheose ebensowenig zu trauen ist wie dem berühmteren zweideutigen Finale von Schostakowitschs Fünfter.
Es ist übrigens nicht lange her, da gelang dem weniger bekannten italienischen Dirigenten Daniele Rustioni mit dem Bayerischen Staatsorchester eine vergleichbar vielschichtige und auch nicht eben leise Rettung dieser üblicherweise für zweitklassig gehaltenen Symphonie. Das sei auch deshalb vermerkt, um den Hype um Currentzis ein wenig zu relativieren. Aber der Grieche holt - als echter oder inszenierter Verrückter - immer noch ein paar Dimensionen Höllentanz mehr heraus. Und das ausgerechnet mit einem deutschen Rundfunkorchester.
Currentzis gastiert am 8. Oktober 2019 mit musicAeterna (Schumann, Prokofjew) sowie am 29. Januar 2020 mit dem SWR Symphonieorchester (Strauss, Mahler) im Gasteig, Karten unter Telefon 93 60 93