Neu im Kino
So ist Martin Scorseses Gangster-Epos "The Irishman"
12. November 2019, 17:00 Uhr aktualisiert am 13. November 2019, 9:56 Uhr
Martin Scorseses Gangster-Epos "The Irishman" ist ein grandioser Abgesang auf die Mafia - und läuft nur zwei Tage lang im Kino
Ob er seine kaltblütigen Morde bereue, fragt der Priester den alten, im Rollstuhl sitzenden Mafia-Killer Frank Sheeran (Robert De Niro). Der zeigt sich verwundert und verneint, er habe die Familien der Opfer ja nicht gekannt und nur seinen Job gemacht.
In der Rückschau entwirft Martin Scorsese ein wuchtiges Panorama beginnend mit den 1950er Jahren als Kriegsveteran und Lastwagenfahrer Sheeran (der titelgebende "Irishman") vom Mafiaboss Russel Bufalino angeheuert wird und bald "Häuser anstreicht", also Auftragsmorde ausführt mit Blutspritzern an der Wand. Für die Rolle des väterlichen Mentors engagierte Scorsese Joe Pesci, der die Fäden zieht und nie die Ruhe verliert, mit sanfter Stimme über Tod oder Leben entscheidet: "Es ist, was es ist".
Der Dritte im Bunde ist der dubiose Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino), der mit den Gangstern bei der Veruntreuung von Pensionsfonds- Geldern gemeinsame Sache gemacht hat und 1975 unter mysteriösen Umständen verschwand. Für ihn ist Sheeran Bodyguard, Berater, Freund.
Einer seiner besten Filme
Nach "Good Fellas" und "Casino" gelingt Scorsese eines seiner besten Werke über Gewalt, Verrat, Lüge, Gefühls- und Moralbankrott. Über das Altern, über Männer, die kompromisslos Respekt und das Gesetz des Schweigens einfordern, Gegner beim Dinner samt Familien auslöschen, mit einem Achselzucken über Leichen gehen. In dreieinhalb kurzen Stunden erzählt der Oscarpreisträger von einer vergangenen Epoche "toxischer Männlichkeit", von bisher verborgenen inneren Strukturen und Rivalitäten der organisierten Kriminalität und wirft Fragen auf nach der Kungelei von Politik, Gewerkschaft und Unterwelt.
War die Mafia an den Kennedy-Attentaten beteiligt? Bufalino jedenfalls lässt anklingen, bei der Präsidentschaftswahl von John F. Kennedy mitgemischt zu haben und empört sich, dass dessen Bruder Bobby als Justizminister nun undankbar der Mafia ins Handwerk pfusche. An die De-Aging-Technik gewöhnt man sich schnell. De Niro, Al Pacino und Pesci, alle hoch in den 70ern, werden digital verjüngt, gehen über die lange Zeitspanne als 30- oder 50-Jährige durch. Die CGI-Effekte (durch 3-D-Computergrafik erzeugte Bilder) machen's möglich.
Diese drei legendären und leidenschaftlich aufspielenden Stars wahrscheinlich das letzte Mal gemeinsam vor der Kamera zu sehen, ist ein Erlebnis. Ein Mammutepos für die große Leinwand. Und genau das ist der Knackpunkt.
Nur ganz kurz im Kino
Auf der Pressekonferenz zur internationalen Premiere seines Films in London gab Martin Scorsese den Kämpfer für das Kino-Erlebnis. Der Haken: "The Irishman" wurde ausgerechnet für den kalifornischen Streaming-Giganten Netflix produziert. Seit zehn Jahren versuchte der Meisterregisseur Charles Brandts Buch "I heard You Paint Houses" zu verfilmen, aber kein großes Studio wagte sich an das teure Projekt heran, nicht zuletzt weil Scorseses "Silence" weltweit nur 23 Mio US-Dollar einspielte.
Netflix soll zwischen 160 und 200 Millionen Dollar in die Produktion gesteckt haben. In diesem Jahr will der Konzern 15 Milliarden Dollar in Inhalte investieren. Und das, obwohl laut Branchen-Dienst Quotenmeter trotz 160 Millionen Abonnenten weltweit in der neuesten Netflix-Bilanz Miese in Höhe von 12,43 Milliarden Dollar verzeichnet sind. Neue Konkurrenten wie Disney+ oder Apple TV+ könnten die Bilanz weiter verhageln, im Heimaland wächst der Markt nur marginal, international ist er weiter auf Wachstumskurs.
Warten wir es ab
Das alles betrifft Scorsese nicht mehr, der seine Unabhängigkeit betont. Er habe frei arbeiten können und man habe sich geeinigt, den Film erst nach vorheriger Kinoauswertung zu streamen. Ein Trostpflaster, läuft der Film in Deutschland erst einmal nur am Donnerstag und Freitag wegen des Boykotts durch die Kinos in wenigen Sälen an, dann ab 27. November weltweit auf der Netflix-Plattform. In den USA ist der Vorlauf länger. Wohl weniger aus Altruismus als dem Ausbau der Marktmacht geschuldet und mit Blick auf das Oscar-Rennen.
Eine Oscar-Nominierung ist nur möglich, wenn der Film mindestens sieben Tage im Großraum Los Angeles im Kino gelaufen ist. Bei "Roma" klappte der Coup, das brillante Schwarz-Weiß-Epos gewann drei Oscars. Und auch bei diesem Meisterwerk stehen die Chancen gut. Obwohl große Kinoketten sich einer Auswertung verweigern, renommierte Regisseure wie Steven Spielberg oder Christopher Dolan Oscar-Einreichungen von Plattform-Filme ablehnen. Für die gebe es die "Emmys", Preise für die Besten TV-Produktionen.
Die Wogen versucht der deutsche Verleiher Christoph Ott zu glätten, der nach "Roma" nun auch "The Irishman" ins Kino bringt und demnächst Noah Baumbachs "Marriage Story" und Fernando Meirelles' "The Two Popes" aus dem Netflix-Programm. Er verspricht, interessierte Kinobetreiber könnten ab dem Startdatum sechs Monate lang die Filme auswerten. Warten wir's ab.
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