Kultur
Schwierige Leichtigkeit des Seins
4. Januar 2023, 15:47 Uhr aktualisiert am 5. Januar 2023, 10:21 Uhr
Wenn die meisten schlafen, rufen sie an: die "Passagiere der Nacht" bei der titelgebenden Radiosendung und sie erzählen von ihrem Leben, von Liebe, Kummer, Katastrophen. Und für Momente entstehen kleine Welten. Es sind Stimmen in der Nacht, in denen sich Menschen anonym offenbaren.
Regisseur Mikhael Hers entführt subtil ins Herz der 80er- Jahre voller Sehnsüchte und Zuversicht, Lebensfreude und Unsicherheiten. Der Film beginnt mit Originalaufnahmen der ausgelassenen Feiern im Mai 1981 nach der Wahl von François Mitterand zum französischen Präsidenten. Sie zeigen die Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel, die in Enttäuschung endete.
Die durchlebt drei Jahre später auch Elisabeth (Charlotte Gainsbourg). Ihr Mann verlässt sie wegen einer Jüngeren, sie bleibt mit ihren zwei heranwachsenden Kindern in der Wohnung in einem Hochhauskomplex mit atemberaubenden Blick über ein Paris. Wie so viele ihrer Generation hat sie auf die Ehe vertraut und nicht gearbeitet, muss sich jetzt einen Job suchen und landet als Telefonistin in der nächtlichen Talksendung von Moderatorin Vanda Dorval (Emmannuelle Béart), die Elisabeth wegen Schlafstörungen oft selbst verfolgte. Dort sortiert sie die Anrufe nach Ehrlichkeit und Relevanz und trifft bald auf die drogensüchtige, obdachlose Talulah, quartiert sie spontan zu Hause in einer Dachkammer ein. Das Mädchen wird die Familienstruktur durcheinanderwirbeln und nach einer Liebesnacht mit Elisabeths 17-jährigem Sohn aus Angst vor zu viel Nähe verschwinden und erst in der letzten Phase des Films wieder auftauchen.
Der Film zeichnet ein leises und zärtliches Familienporträt über sieben Jahre mit Ausschnitten aus dem Auf und Ab des Lebens. Dabei erinnert "Passagiere der Nacht" mit großer Lust am Kino an den Meisterregisseur Eric Rohmer. Ganz ohne Nostalgie schwelgt er in der Vergangenheit mit einer Portion Mut und Melancholie, Romantik und Rebellion, Aufbruch und Ausbruch.
Der Film fängt das Gefühl einer Epoche ein, auch in den Farben und Frisuren, vor allem in der Musik, in Dialogen voller Poesie. Es passiert einiges - Trennung, aufkeimende Liebesgeschichten, Abschied von erwachsenen Kindern, Loslassen und Neuanfang. Die alltäglichen Konflikte sind dabei präsent, aber eine lässige Leichtigkeit verhindert Problemschwere. Trotz ihrer Zerbrechlichkeit geben sich die Figuren, deren Entwicklung man gespannt verfolgt, nie auf.
Und es geht uns Zuschauern das Herz auf, Charlotte Gainsbourg in einer ihrer besten Rollen zu bewundern - in ihrer Einsamkeit und Verletzlichkeit, aber auch in ihrer stillen Kraft und Entschlossenheit, wie sie nach und nach Selbstbewusstsein gewinnt und sich neu erfinden muss, die Liebe neu entdeckt und glückliche Momente erlebt, auch wenn vieles in ihrem Leben ungewiss bleibt. Diese sanfte Hommage an die Nachtgestalten ist auch eine Liebeserklärung an ein Paris im Dunkel der Nacht und das langsame Erwachen der Metropole im frühen Tagesgrauen.
Kino: Monopol sowie
Werkstatt, Theatiner (OmU)
R: Mikhael Hers (F, 111 Min.)