Kultur
Schwermut an der Seine
29. März 2023, 16:59 Uhr aktualisiert am 29. März 2023, 18:18 Uhr
Wenn eine unvermeidliche Rentenreform in Frankreich vordergründig zu Generalstreik, brennenden Barrikaden und Randalen führt, diagnostizieren Soziopsychologen hintergründig eine Wut der Franzosen auf die Unhaltbarkeit ihres Savoir vivre in Zeiten moderner Transformationen. Und da kommt die Wiederkehr des Klassikers Maigret als nostalgische Rückversicherung der Grande Nation gerade recht.
Patrice Leconte (75) hat "Maigret" mit dem unangepassten Nationalheld Gérard Depardieu als Kommissar verfilmt - in einem Paris der 50er Jahre, nachkriegsgrau patiniert, aber mit existenzialistischen Cafés, Zeitungskiosken, Antiquariaten und Selbstfindungs-Bänken an den feuchten, dunkel geziegelten Ufern der Seine.
Im neuen Fall ist gleich ein leichtes Mädchen tot - abgelegt auf einer Vorstadtstraße, zu gut angezogen für ihre kunstseidenen Verhältnisse. Und schon führt die Spur in die bessere Gesellschaft, wo sich hinter dem diskreten Charme der Großbourgeoisie Abgründe verbergen: Mutterkomplex, verkapselte Homosexualität, deren Mischung zu Impotenz und Perversion führen, worauf Maigret totsicher, ruhig, aber erst spät stößt.
Leconte, der schon 1989 mit "Die Verlobung des Monsieur Hire" einen Simenon-Roman verfilmt hatte, gelingt eine kunstvoll raffinierte Inszenierung, die - neben der Krimihandlung in der harten Klassengesellschaft zwischen Gosse und den oberen Zehntausend - noch mehrere zweifelhafte, irritierende Fährten zu legen und dazu in die Noir-Atmosphäre noch subtilen Witz einzubauen.
In zwei Anfangsszenen erleben wir in Nahaufnahmen Maigret beim Hausarzt, der aber gleichzeitig Freund ist und der Pathologe des Kommissariats, der dem übergewichtigen, genialischen Wrack Depardieu/Maigret rät: "Sie sollten in den Ruhestand! Sie sollten das Rauchen aufhören! Sie sollten vernünftig essen und Sex haben!"
In einer gegengeschnittenen Szene schämt sich eine schöne, magere junge Frau, als sie sich in einer kleinen Edelboutique ausziehen muss, um sich ein teures Leihkleid auf den nackten Leib anpassen zu lassen. Sie wird damit als ungebetener Gast auf einer Fassadenhochzeit der Schönen und Reichen auftauchen. Danach ist sie tot.
Niemand scheint sie zu kennen und zu vermissen. Und Maigret wird ihren Spuren folgen - in ärmliche Hinterhaus-Dachkammern von Hausmädchen und jungen Gelegenheitsprostituierten. Ihn umgibt die Melancholie eines Kommissars , der weiß, dass es immer arme Opfer geben wird und dass das Aufspüren von Mördern eine Sisyphusarbeit ist - moralisch geboten und sinnlos zugleich.
Ein häufiger Trick für eine weitere, psychologische Krimi-Ebene ist oft der Blick hinter die Wohnungstür des Kommissars. Auf Maigret, dessen Schritte die Treppe zur Wohnung hinauf nicht nur von seinem Gewicht belastet scheinen, wartet eine ältere Hausfrau, die ihrem überarbeiteten Mann im Morgengrauen liebevoll eine Frühstück zubereitet hat, das er meidet und lieber allein ins Café geht.
Aber für die banale Erklärungsgeschichte einer erloschenen, bürgerlichen Ehe, ist Leconte zu subtil und elegant. Denn hinter dem ehelichen Schweigen der Maigrets schimmert plötzlich ein gemeinsamer Schmerz auf. Und dennoch spürt man eine liebevolle, solidarische Grundierung.
Das ist feingewobene Erzählkunst. Denn es ist die junge Tote, die Maigrets dunklen Lebensschmerz wieder beleuchtet, sein Einfühlungsvermögen wieder aktiviert, mit er so erfolgreich ermittelt.
Der Preis dafür ist Sensibilität und Verwundbarkeit, die Gérard Depardieu meisterhaft hinter minimaler Mimik spüren lässt.
Und ab und zu erlaubt sich "Maigret" dezenten Witz: Wie er sich - nach den ersten Tagen mit guten Gesundheitsvorsätzen - ohne Pfeife fühle, fragt ein Kollege. "Nackt", sagt Maigret, und wird die Pfeife bald wieder in den Mund stecken - eine Zeit lang sogar unangezündet, dann wieder rauchend, denn das Leben lässt sich so einfach leichter ertragen.
Kino: ABC, Monopol, Theatiner (OmU), R: Patrice Leconte (F, 88 Min.)