Kultur

Kleiner Karriereknick

Hannover trennt sich von Marco Goecke. Das Bayerische Staatsballett hält dem Choreographen die Treue


Marco Goecke, der ehemalige Ballettdirektor der Staatsoper Hannover.

Marco Goecke, der ehemalige Ballettdirektor der Staatsoper Hannover.

Von Robert Braunmüller

"Dieser unüberlegte Angriff auf die Journalistin und den Menschen Wiebke Hüster hat gegen zu viele Grundsätze des Staatstheaters verstoßen, dem Ruf des Hauses massiv geschadet und hat nicht zuletzt strafrechtliche Konsequenzen", sagte die Intendantin Laura Berman am Donnerstag in Hannover. Dies könne auch Goecke nachvollziehen. "Daher haben wir uns in einem ausführlichen persönlichen Gespräch darauf geeinigt, seinen Vertrag als Ballettdirektor im gegenseitigen Einverständnis und mit sofortiger Wirkung aufzulösen."

Der 50-Jährige hatte am Samstagabend im Foyer des Opernhauses in Hannover die Journalistin mit Hundekot beschmiert. Zuvor hatte er Hüster in einer Pause der Premiere von "Glaube - Liebe - Hoffnung" vorgeworfen, immer "schlimme, persönliche" Kritiken zu schreiben. Drei Tage später bat der vielfach ausgezeichnete Choreograf öffentlich um Entschuldigung - machte Hüster aber zugleich weitere Vorwürfe. Die 57-Jährige reagierte entrüstet. "Was für eine Art von Entschuldigung soll denn das bitte sein? Das ist eine Rechtfertigung", sagte die Kritikerin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im 3sat-Magazin "Kulturzeit".

Die Interviews nach dem Übergriff zeigten nur eine Seite von Goecke, sagte die Intendantin, die sich als "Freundin" des Künstlers bezeichnete. "Gestern habe ich im persönlichen Gespräch einen Marco Goecke erlebt, der am Boden zerstört ist." Auf Nachfrage verwies die Opernchefin darauf, dass der Choreograf schon vor Jahren seine gesundheitlichen Probleme in dem Stück "Thin Skin" verarbeitet habe. Dazu gibt es auch eine gleichnamige TV-Dokumentation, in der Goecke von Ängsten, seinen "Dämonen" spricht. Das gegen ihn ausgesprochene Hausverbot in der Staatsoper bleibt t bestehen.

In einem am Montagabend im NDR und WDR ausgestrahlten Interview sagte Goecke zu der Tat: "Das war absolut im Affekt." Sein alter Dackel habe in seine Tasche gemacht, was manchmal in dem Alter passiere. Er habe das Häufchen in eine Tüte gepackt und draußen entsorgen wollen.

Hüster hatte dagegen am Sonntag von einer geplanten Tat gesprochen. "Das war Vorsatz", sagte sie. Die Polizei Hannover ermittelt gegen Goecke wegen des Verdachts der Körperverletzung und Beleidigung. Berman sagte nicht, ob Goecke eine Abfindung erhält. Über Einzelheiten des Aufhebungsvertrags sei Stillschweigen vereinbart worden. Goeckes Werke werden an großen Bühnen in Europa gezeigt. Andere Häuser haben bereits signalisiert, dass sie trotz der Hundekot-Attacke weiter mit ihm zusammenarbeiten wollen.

Auch die Staatsoper Hannover will seine Stücke im Repertoire behalten. "Wir glauben nicht, dass das Werk eines Künstlers aufgrund einer einzelnen unüberlegten Tat - so widerlich sie auch sein mag - komplett verdammt werden sollte."

Berman charakterisierte Goecke als "mitfühlenden, rücksichtsvollen, humorvollen, gelegentlich sehr verletzlichen Menschen", mit dem bisher "ohne irgendeine Form von Aggression von seiner Seite" zusammengearbeitet worden sei.

Der Übergriff hat international Schlagzeilen gemacht. Die Attacke löste auch eine Debatte über das angespannte Verhältnis von Kunst und Kritik aus. "Gute, verantwortungsvolle Kritik ist gefährdet", meinte Berman, "polarisierende Äußerungen erzeugen mehr Aufmerksamkeit, mehr Klicks". Selbstverständlich entschuldige oder rechtfertige der auf Künstlern lastende Druck keine Übergriffe jeglicher Art.

In der "FAZ" verwahrte sich Herausgeber Jürgen Kaube, der Ehemann Hüsters, gegen das Gerücht, die Kritikerin sei Goecke "auf Schritt und Tritt mit böser Absicht hinterher gewesen". Seit 2006 habe sie ganze neun Werke des sehr produktiven Choreografen besprochen und zwei enthusiastisch gelobt, beide im Jahr 2021.

Goecke ist Artist in Residence im Theaterhaus Stuttgart. Dort muss er keine Folgen für sein Engagement befürchten, wie eine Sprecherin von Gauthier Dance, der Compagnie des Theaterhauses, bereits am Montag sagte. Auch das Nederlands Dans Theater will seine Tour mit Goeckes Stück "In the Dutch Mountains" fortsetzen.

Das Gärtnerplatztheater hält Goeckes "La strada" im Spielplan. Allerdings sind derzeit ohnehin nur noch zwei Vorstellungen vorgesehen. Bei den Münchner Opernfestspielen soll Goecke als Auftakt für die Reihe "Sphären" für das Staatsballett im Prinzregententheater zeitgenössische Choreografien kuratieren. Für diesen Abend im Prinzregententheater soll das Bayerischen Junior Ballett Goeckes "All long dem day" einstudieren. Das Staatsballett hält dem Vernehmen nach an dieser Produktion fest.

Im Theaterbetrieb war die Nachsicht mit übergriffigen Genies schon immer groß. Wenn man von außen kritisiert wird, rückt man intern zusammen. Die Rehabilitierung Goeckes hat daher unmittelbar mit seiner Entlassung begonnen. Und bald auch dürfte er wieder irgendwo Ballettdirektor werden.