Gastland Kanada auf der Buchmesse
„Die Literatur wird immer bunter“
13. Oktober 2020, 17:27 Uhr aktualisiert am 14. Oktober 2020, 7:11 Uhr
Was macht kanadische Literatur aus? Dr. Dagmar Schmelzer ist am Lehrstuhl für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Regensburg tätig. Zum Start der Frankfurter Buchmesse (14. - 18. Oktober), die in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen digital stattfindet, erläutert sie, welche Themen speziell für die französischsprachige kanadische Literatur bedeutsam sind - vom bäuerlichen Winter über die "deux solitudes" bis zu den "first nations".
Prägendes Element der Literatur und Kultur Kanadas ist seine Zweisprachigkeit. Ungefähr ein Viertel der Bevölkerung ist frankophon. In der Provinz Québec, die auch der historische Kern Kanadas ist, sprechen etwa 80 Prozent der Bevölkerung Französisch als Muttersprache. Gleichzeitig ist Französisch aber bezogen auf das gesamte Land eine Minderheitensprache - eine kreative Spannung, die eine ganz eigene literarische Identität hervorbringt. Über Vergangenheit und Gegenwart dieser Identität spricht Dr. Dagmar Schmelzer im Interview mit idowa.
Welches Bild haben Sie spontan vor dem geistigen Auge, wenn Sie an kanadische Literatur denken?
Dr. Dagmar Schmelzer: Was mir zuerst einfällt, ist Winter, bäuerliches Leben unter relativ harten Verhältnissen. Ein karges Leben, das auch wenig Sprache verwendet. Deswegen auch eine Literatur, die versucht, etwas auszudrücken, das bis zu einem gewissen Grad mehr gefühlt als gesprochen ist. Dazu gibt es einen Roman mit dem Titel "Maria Chapdelaine" aus dem Jahr 1913 von einem Autor, der aus Frankreich ist, Louis Hémon. Das ist nun natürlich ein relativ traditionelles Bild von Québec. Das Land hat sich in der Zwischenzeit sehr stark gewandelt und die Literatur auch. Heute ist Québec wie ganz Kanada ein modernes Einwanderungsland. Man setzt auf Migrationspolitik, es ist eine multikulturelle Gesellschaft mit lebendigem Großstadtleben und globaler Orientierung. Aber es gibt natürlich auch gewaltige Naturräume im Hintergrund - das Land ist sehr groß, flächenmäßig das zweitgrößte der Erde.
Kann man überhaupt von kanadischer Literatur sprechen und wenn ja, was zeichnet sie aus?
Schmelzer: Kanadische Literatur muss man differenzieren in anglophone kanadische Literatur und frankophone Literatur. Es gib für Kanada ja immer den Begriff der "two solitudes" beziehungsweise der "deux solitudes", also der zwei Einsamkeiten. Das ist so, weil sich diese beiden, also frankophone und anglophone Literatur und auch Kultur, nebeneinander entwickeln. Und die frankokanadische Literatur reagiert auch auf eine Minderheitensituation und ist deswegen auch etwas kämpferischer ausgerichtet. Sie stand lange Zeit über im Dienste der Identitätspolitik. Das gilt zum Beispiel in den 60er Jahren für politische Lyrik. Ein gutes Beispiel ist das Gedicht "Speak white" der Montréaler Autorin Michèle Lalonde. Sie kritisiert darin die Diskrimierung der Frankophonen, die sich genötigt fühlten, "weiß", das heißt "Englisch" zu sprechen, und ihre kulturellen Wurzeln zu verleugnen, wenn sie gesellschaftlich aufsteigen wollten. Es gibt in Québec auch viel Essayistik zum Identitätsthema. Und es gibt über viele Jahrzehnte eine Tendenz, mündlich orientierte Literatur zu produzieren, auch im Übergang zum Chanson. Was damit zusammenhängt, dass man die gesprochene französische Variante, das sogenannte Joual, besonders wertschätzen möchte. Ab den 80er Jahren gestalten sich die Dinge dann wieder etwas anders. Diese Sachverhalte sind verbunden mit der Zeit, in der Québec versucht hat, sich politisch von Kanada zu lösen.
"first nations" bringen sich immer mehr ins Gespräch
Sie haben bereits einige Themenkomplexe genannt, die sich in der Literatur finden beziehungsweise sie als Produktionssituation bedingen. Da ist etwa der Dualismus der beiden großen Sprechergemeinschaften, da ist Naturerfahrung. Zudem ist Kanada Einwanderungsland. Also spielt auch das Thema Migration eine gewisse Rolle. Finden sich diese Themen als roter Faden immer wieder in der kanadischen Literatur?
Schmelzer: Ja und Nein. Seit den 80er Jahren haben sich die Inhalte etwas verändert. Das Thema Migration ist sicherlich nach wie vor sehr wichtig. Mit dem Migrationsthema hängt auch zusammen, dass sich die kanadische und die quebecer Literatur sehr stark diversifiziert. Und dass dieses traditionalistische, nationaldiskurs-orientierte Schreiben nicht mehr das einzige ist. Das gibt es zwar nach wie vor, vor allem von den Autoren der Babyboomer, die mit dem Schaffen der 60er und 70er Jahre nach wie vor stark verbunden sind. Aber jüngere Autorinnen und Autoren schreiben sehr unterschiedlich. Ab den 80er Jahren gab es etwa auch die Tendenz, Québec zu sehen als einen Teil Nordamerikas oder auch des ganzen Kontinents, und die "americanité" neu zu definieren. Eine der neuesten Tendenzen ab den 90er Jahren ist, dass auch die autochthonen Autoren, also die der "first nations", sich immer mehr ins Gespräch bringen. Aus der frankophonen Sicht ergibt sich aktuell immer mehr eine Debatte um die Frage, ob die Literatur aus Québec sozusagen quebecerisch ist oder ob es sich einfach um Literatur aus Québec handelt, die gleichzeitig Weltliteratur ist.
"Die Literatur etwa in Québec wird immer diverser."
Sehen Sie Trends im Bereich der Stilistik innerhalb der zeitgenössischen Literatur?
Schmelzer: Die Literatur etwa in Québec wird immer diverser, unterschiedlicher, bunter. Daher kann man sie nicht auf einen oder einige wenige Stillagen festlegen. Traditionell gesehen ist die quebecer Literatur sehr politisch gewesen. In Zusammenhang mit der starken Gesellschaftsbindung gab es relativ viel realistisch ausgelegte Literatur, die zum Beispiel auch sehr stark Alltagserfahrungen erzählt hat, das dann aber zum Teil auch überformt hat, sodass es sich um poetisch-träumerische Ausgestaltung handelt. In der aktuellen Landschaft gibt es aber eine sehr große Bandbreite. Mündlichkeit spielt hier etwa auch eine große Rolle, wie schon erwähnt. Dieser Ansatz wird etwa von den autochthonen Autoren wieder gerne gewählt. Sie publizieren häufig auch zweisprachig, also auf Französisch und in ihren indigenen Sprachen. Die Bände werden dann häufig zweisprachig veröffentlicht, etwa in der Lyrik. Eine der bekanntesten Autorinnen der "first nations" ist beispielsweise Joséphine Bacon, deren Muttersprache das sogenannte Innu-Aimun ist.
Wie ist das Verhältnis zum großen Nachbarn USA in der Sphäre des literarischen Schaffens? Orientiert man sich an der Kultur oder versucht man mehr, eine eigene Stimme zu entwickeln?
Schmelzer: "americanité" ist weniger eine Orientierung nach den USA, als vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Position, die man auf dem amerikanischen Kontinent hat. Das muss keine Opposition sein, es ist vielmehr ein Miteinander, ein Dialog, ein sich Einschreiben in den Kontinent. Es gibt eine Geschichte der Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents, die durchaus sehr viel mit der französisch-kanadischen Bevölkerung zu tun hat. Denn diese Menschen haben von Norden aus den Kontinent erschlossen bis nach Louisiana runter. An diese Traditionen wird angeknüpft und es wird der Platz gesucht, den das Französische und diese Tradition in Amerika haben können. Es geht also nicht um Opposition gegenüber Amerika und auch nicht darum, alles zu hollywoodisieren. Es geht stattdessen um die Frage, welchen Beitrag die frankokanadische Kultur geliefert hat und liefern kann, und darum, wo es Berührungspunkte gibt. Da ist zum Beispiel die räumliche Weite und die ständige Mobilität. Das sind Themen, die man als Quebecer durchaus wiedererkennen kann.
Wenn Sie jemandem, der nicht mit kanadischer Literatur vertraut ist, drei Bücher empfehlen sollten, welche Titel wären das?
Schmelzer: Empfehlen kann ich eben "Maria Chapdelaine" von Louis Hémon. Das ist ein sogenannter "Landroman" über das harte Leben der bäuerlichen Bevölkerung in einer unwirtlichen Natur, zugleich die Geschichte einer starken Frau und eine Liebeserklärung an Québec - ein Klassiker. Dann würde ich "Bonheur d'occasion" von Gabrielle Roy empfehlen. Der Roman spielt im Arbeiterviertel Saint-Henri von Montréal zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und verrät viel über die prekäre soziale Situation und die Lebensumstände des frankophonen Proletariats, das damals gegenüber den überwiegend anglophonen Unternehmern deutlich benachteiligt war - die Ausgangslage für die Forderungen zur nationalen Selbstbestimmung während der Stillen Revolution. Für die neuere quebecer Literatur ist es schwieriger, repräsentativ zu sein, denn das Spektrum ist breit. Ein sehr lesenswertes Beispiel für die neue Literatur von Migrantinnen ist jedoch "Le Livre d'Emma" der haitianisch-quebecer Schriftstellerin Marie-Célie Agnant.