Auf dem rechten Auge blind

Das Stadtraumprojekt „Kein Kläger“ von Christiane Mudra


Das Stadtraumprojekt "Kein Kläger".

Das Stadtraumprojekt "Kein Kläger".

Von Robert Braunmüller / TV/Medien

Christiane Mudra erforscht im Stadtraumprojekt "Kein Kläger" die Nachkriegskarrieren von NS-Juristen

Ein Wort singt das Darstellerteam von Christiane Mudra auf ihrem Weg durch München immer wieder, voller Inbrunst und mit falschem, bitter-ironischem Pathos: "Tradition!" Und ja, es gibt eine Tradition in der Rechtsgeschichte Deutschlands, die sich von der Zeit vor dem nationalsozialistischem Regime Hitlers bis ins Heute zieht, eine Tradition, welche die unermüdlich recherchierende und politisch leidenschaftlich engagierte Theatermacherin Mudra in ihrem monumentalen Stadtraumprojekt "Kein Kläger" als Abschluss ihrer performativen NSU-Trilogie anprangert: die Tradition in der Jurisdiktion, rechtsradikale Verbrechen vor Gericht zu verharmlosen, so dass die Täter mit viel zu geringen oder sogar gar keinen Strafen davonkommen.

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Das Stadtraumprojekt "Kein Kläger".

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Vor dem Justizpalast, in dem es nicht immer gerecht zu ging: Murali Perumal, Melda Hazirci, Stefan Lehnen, Sebastian Gerasch, Ursula Berlinghof im Alten Botanischen Garten.

Vom SA-Mann zum bayerischen Kultusminister

Außerdem konnten jene Richter, die in der NS-Zeit ihre weder unabhängigen noch gerechten Urteile fällten, sich nach 1945 locker selbst jeder Bestrafung entziehen, konnten munter weiter ihre Karrieren verfolgen, bis in höchste Ämter hinein. Theodor Maunz ist einer dieser Juristen, der ungestraft blieb, obwohl er bereits 1933 der NSDAP und SA beigetreten war und mit seinen Rechtssprüchen Nazi-Verbrechen legitimierte.

Später verfasste er einen weiterhin bestehenden Standardkommentar zum Deutschen Grundgesetz, war ab 1952 Professor an der LMU, zählte Roman Herzog und Edmund Stoiber zu seinen Schülern, wurde zwischendurch bayerischer Kultusminister. Seine braune Vergangenheit geriet schnell ins Vergessen, wie bei so vielen Juristen.

Mudra und ihr Team haben es sich nun zur Aufgabe gemacht, das Verschüttete ans Licht zu bringen und sie machen es in solcher geballter Form, in einem Wirbelwind von Informationen und mit Hilfe diverser medialer Mittel, dass man am Ende von über drei Stunden Performance wirklich vollkommen informiert und erschöpft ist.

Im weißgewandeten Science-Fiction-Modus in die Vergangenheit

Aber das Thema eignet sich auch nicht für einen kurzen Streifzug, sondern verlangt die Breite, muss über eine epische Laufzeit erzählt werden, weil es nicht um ein paar Beispiele, sondern ein kontinuierliches Phänomen geht, das sich über die Zeit hinweg verfestigt hat.

Um diese Geschichtslinien zu ziehen, nimmt das fünfköpfige Performance-Team im Science-Fiction-Modus ihr Publikum auf eine Zeitreise mit, weißgekleidet wie das Team vom "Raumschiff Orion" und durchaus mit einer gewissen Rollenverteilung: Sebastian Gerasch schlüpft zum Beispiel immer wieder in die Haut verschiedener wortgewandter, öliger Rechtsverdreher, während Melda Hazirci immer wieder den anderen stirnrunzelnd zuhört und Einspruch erhebt.
Mudra macht das sehr geschickt, lässt ihre Performer auch ein paar gewagte Vergleiche zwischen dem Heute und der NS-Zeit ziehen, was aber im Konzert von fünf Stimmen jederzeit relativiert werden kann. Hier performt ein Quintett verschiedene Haltungen, karikiert da mal leicht, ist dort wieder ganz ernst, und das Publikum muss genau hinhören und kann sich selbst positionieren - wobei hier schon klar didaktisch belehrt wird.

In der Justiz wie im Leben insgesamt hat das gesprochene Wort eine ungeheure Macht. So ist dieser München-Spaziergang vom Olympia-Einkaufszentrum bis hin zum Königsplatz (inklusive einiger U- und Trambahnfahrten) vor allem auch ein Parcours durch die Zitate und die darin strategisch eingesetzte Begrifflichkeiten.

Schlussstrich

Das Wort "Täter" etwa blieb einst vor allem Adolf Hitler vorbehalten, während andere später als "Gehilfen" galten und deswegen mit geringeren Strafen zu rechnen hatten. Ministerialdirigent Eduard Dreher, während der Nazizeit tätig am Sondergericht Innsbruck und wegen seiner Anträge auf Todesstrafe nach dem Krieg selbst unter Beschuss, brachte 1968 ein Gesetz durch den Bundestag, in dem er festlegte, dass diese Gehilfen milder bestraft werden "mussten".

So konnte die Schuld von Tätern unter den Teppich gekehrt werden, der ersehnte Schlussstrich gezogen werden. Oder mit den Worten von Franz Josef Strauß, die auch im elaborierten, sehr lesenswerten Programmheft zur Performance zitiert werden: "Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen."

Dass noch heute lieber von Einzeltätern als von weitflächigen rechtsradikalen Gruppierungen die Rede ist, machen Mudra und ihr Team gleich am Anfang bewusst: Auf dem Parkdeck des Olympiaeinkaufszentrums erzählen die Zeitreisenden vom "Amoklauf" des 18-jährigen David Sonboly, der am 22. Juli 2016 neun Menschen erschoss und fünf weitere schwer verletzte.

Bewegender Overkill an Inhalten und Erzählmitteln

Obwohl Sonboly sich in rechtsextremen Foren herumtrieb, wurde seine Tat als die eines Einzelnen ausgewiesen. Von kollektivem Rechtsextremismus will offenbar niemand etwas hören - auch beim NSU-Prozess sprach die Bundesanwaltschaft von einem isolierten Tätertrio. Wie der mitangeklagte André Eminger am Ende hinsichtlich der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung schuldig und ansonsten frei gesprochen wurde, hat Christiane Mudra selbst im Gerichtssaal miterlebt, sowie den Jubel der anwesenden Rechtsextremisten und den Kummer der Angehörigen. In "Kein Kläger" ruft sie diese und andere traumatisierenden Momente schnörkellos auf, verarbeitet sie, klagt an.

Dafür hat sie ein Darstellerteam zur Seite, das beeindruckend die Spielenergie über drei Stunden hält, mit klaren Haltungen den Wahnsinn der Vergangenheit heraufbeschwört und die Linien bis in die Gegenwart zieht. Dazu kommt eine tourbegleitende App mit Zeitzeugen-Interviews. Ein paar Virtual-Reality-Szenarien können per Brille betrachtet werden, auf Laptops kommen einem die Hinterbliebenen näher.
Es ist ein Overkill an Details und Erzählmitteln, zum Teil ermüdend, aber selten hat man so eine überwältigende, politisch nachhaltige Performance durch die Stadt erlebt.

Treffpunkt: Bushaltestelle Riesstraße (Linie 175), Ecke Hanauer Str./Riesstraße am OEZ, heute und morgen, sowie 17.-19., 21. Juli, 19.30 Uhr, 21,60 Euro, Karten: www.muenchenticket.de oder www.christianemudra.de