Kultur

Das Potenzial wecken

Haben die Münchner Philharmoniker einen neuen Chefdirigenten gefunden?


Lahav Shani - hier bei einer Probe mit dem BR-Symphonieorchester im Herkulessaal der Residenz.

Lahav Shani - hier bei einer Probe mit dem BR-Symphonieorchester im Herkulessaal der Residenz.

Von Robert Braunmüller

Welche Dirigenten oder Dirigentinnen von Orchestern für gut befunden werden, entzieht sich der Betrachtung von außen. Was sich vor Publikum ereignet, ist zwar wichtig, aber auch nur das Ergebnis eines kollektivchemischen Prozesses, der bei Proben hinter meist verschlossenen Türen stattfindet. Bei Nachfrage kann man in diesem Punkt ziemliche Überraschungen erleben: Denn auch bei von Musikern als weniger gelungen wahrgenommenen Konzerten machen alle ein freundliches Gesicht.


Dieser Vorspruch ist nötig, weil der nun genannte Name bei Menschen außerhalb der Klassik-Blase womöglich mit fragendem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen wird: Laut einem Bericht des "Münchner Merkur" sollen sich die Münchner Philharmoniker für Lahav Shani als neuen Chefdirigenten entschieden haben.

Das Orchester und das städtische Kulturreferat wollen sich dazu nicht äußern. Zu hören ist nur, die Entscheidungsfindung laufe nach dem zuletzt auch vom Oberbürgermeister formulierten Zeitplan, dass eine Entscheidung im ersten Quartal das Jahres zu erwarten sei.

Der 1989 in Tel Aviv geborene Shani dirigierte im März 2022 ein "Benefizkonzert für die Ukraine" aller Münchner Orchester in der Isarphilharmonie. Zuletzt stand er im September mit Werken von Dvořák, Ravel und Berlioz vor den Philharmonikern, wobei ihm diese Zeitung eine "weitsichtige Kunst der Disposition" und freigeistiges Musizieren konstatierte.

Am Donnerstag und Freitag dieser Woche dirigiert er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal. Und das zum wiederholten Mal, was heißt, dass man ihn auch beim anderen großen und bisweilen recht wählerischen Konzertorchester der Stadt schätzt.

Shani spielt auch konzertreif Klavier und hat Erfahrungen mit dem Kontrabass. Er studierte in Tel Aviv und Berlin. 2013 gewann er beim Gustav-Mahler-Wettbewerb der Bamberger Symphoniker den ersten Preis. Seit 2018 ist er Chef des Rotterdam Philharmonic Orchestra, ein Jahr später wurde er beim Israel Philharmonic Orchestra zum Nachfolger von Zubin Mehta ernannt.


Die Entscheidung für Shani wäre eine Zäsur: Die Philharmoniker wirkten lange auf Vaterfiguren fixiert, die prestigeträchtige Auslandstourneen ermöglichten. Nun sind die älteren Musiker, die Sergiu Celibidache noch erlebt haben, bald alle in Pension. Eine jüngere Generation von Musikerinnen und Musikern wirkt tonangebend.

Nach Christian Thielemanns geräuschvollem Abgang sprach der damalige Kulturreferent Hans-Georg Küppers davon, das Orchester könne einen jüngeren Chefdirigenten vertragen, der mit und durch das Orchester wachse. Der kam dann zwar nicht. Zuletzt setzten die Philharmoniker aber verstärkt auf viel jüngere Gastdirigenten- und Dirigentinnen. Daher ist davon auszugehen, dass sie sich ihre Entscheidung sicher gut überlegt haben.

Laut Geschäftsordnung wird der Chefdirigent vom Stadtrat auf Vorschlag des Kulturreferenten berufen. Dieser Vorschlag wiederum beruht auf dem Votum des Orchesters, gegen dessen Wunsch "kein Engagement eines/-r Generalmusikdirektors/-in erfolgen" soll.

Was weniger formal gesagt heißt: Das Orchester entscheidet selbst über den Chefdirigenten. Das Vorbild jeder Orchesterdemokratie sind die Berliner Philharmoniker, ein ursprünglich privates, von den Musikern selbst verwaltetes Orchester. Bei Klangkörpern unter staatlicher oder städtischer Verantwortung ist die Mitbestimmung weniger ausgeprägt, wobei kein Minister oder Bürgermeister heute gut beraten wäre, einen Chefdirigenten gegen ein Orchester einzusetzen.


Darüber, ob die hiesigen Philharmoniker wie in Berlin Stimmzettel in eine Urne werfen, verrät die Geschäftsordnung nichts. Kampfkandidaturen dürften unüblich sein. Beim letzten Chef Valery Gergiev drängte sich auch in seinen besten Jahren der Eindruck auf, er sei mehr von internen Gremien eingesetzt und danach höchstens mit einfacher Mehrheit gewählt worden.

Gergiev kam dem Orchester kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine per Machtspruch aus dem Rathaus abhanden. Eine formelle Abwahl gab es nicht, auch wenn eine starke Mehrheit der Musikerinnen und Musiker diese Entscheidung mitgetragen haben dürfte.

Lorin Maazel und Valery Gergiev verzichteten auf den pompösen Titel eines Generalmusikdirektors. Sie hielten sich auch weitgehend aus dem Tagesgeschäft heraus - im Unterschied zu Christian Thielemann, der seinen Titel durchaus lebte, soweit es der eigenen Karriere und dem persönlichen Wohlbefinden diente.

Die Philharmoniker mussten sich damals viel überregionale Kritik anhören. Aber sie wuchsen langfristig durch diese Krise. Das Orchester ist in den letzten Jahren selbstbewusster geworden. Auch wenn es in diesem Punkt im internationalen Vergleich noch viel Luft nach oben gibt, hat die jüngere Generation der Philharmoniker in Eigeninitiative neue Konzertformate entwickelt. Das Orchester der Stadt wirkt in vielem, jünger, frischer und beweglicher wie das BR-Symphonieorchester, das sich zuletzt schlecht gelaunt in einer unglücklichen Konzertsaaldebatte aufzureiben schien.

Wer auch immer nach Gergiev kommt: Das Orchester hat - auch dank der Isarphilharmonie - ein starkes Potenzial. Man muss die Chancen nur nutzen.

Lahav Shani dirigiert am 19. und 20. Januar das BR-Symphonieorchester im Herkulessaal. Restkarten bei BR Ticket unter Telefon 0800 - 5900 594